Johannes der Täufer muss seinen Zeitgenossen einen faszinierenden Anblick geboten haben. Wenn sie ihn denn zu sehen bekamen. Der wortgewaltige Prediger und Bußtäufer hielt sich außerhalb des zivilisierten Raumes in der Wüste auf. In dieser lebensfeindlichen Umgebung, ganz wie ein alttestamentarischer Prophet, kleidete er sich nach dem Evangelisten Markus in ein „Gewand aus Kamelhaaren“ (Mk 1,6) und einen ledernen Gürtel. Viel auffälliger war allerdings seine Ernährungsweise: Seine Diät bestand aus „Heuschrecken und wildem Honig“. Das war auch für die damalige Zeit ungewöhnlich. Die Heuschrecke, wohlbekannter Begleiter des agrarisch lebenden und wirtschaftenden Menschen, hatte bisher nicht ihren Weg auf die Teller des jüdischen Volkes gefunden.
Speisevorschriften stiften Identität. Viele Religions- und Sozialgemeinschaften definieren sich unter anderem durch die Reglementierung und Tabuisierung von Nahrung und grenzen sich damit von anderen Gemeinschaften ab. Gleichzeitig binden die Speisevorschriften die Mitglieder an die Gemeinschaft. Die bekanntesten Fälle sind sicherlich das Verbot des Schweinefleischverzehrs in Judentum und Islam oder das Tabu des Rindfleischverzehrs im Hinduismus. Mahatma Gandhi nannte die Verehrung des Rindes „das Geschenk des Hinduismus an die Welt“. Einige Ureinwohner Südamerikas tabuisieren den Verzehr von Hirschfleisch, da der nachtaktive Einzelgänger als Träger der menschlichen Seelen angesehen wird. Noch bis ins 19. Jahrhundert gab es ein päpstliches Verbot des Pferdefleischgenusses, das angeblich bis auf den heiligen Bonifazius zurückreichte und dessen Sinn es war, sich von den barbarischen Heiden abzugrenzen. Das revolutionäre Frankreich verlor als erstes die Scheu vor dem Verzehr der Reittiere; während der Belagerung von Paris 1870 aßen die Bewohner notgedrungen angeblich sogar den gesamten städtischen Zoo leer. Wissenschaftlich lässt sich die Tabuisierung oft aus zwei Gründen erklären: Die Tiere waren, wie im Falle des Rindes, oft zu wertvoll, um verzehrt zu werden, und wurden deshalb mit einem Speiseverbot belegt. Das Schwein wiederum könnte als Allesfresser direkter Nahrungskonkurrent gewesen sein und lieferte zudem kein warmes Fell oder verwertbare Milch. Andere Tiere wiederum wurden aufgrund ihrer Klassifizierung als „zu nah“ (domestizierte Tiere, das Hundefleischtabu) oder „zu fremd“ (beispielsweise Insekten) aus der Nahrungsliste ausgeschlossen. Kategorien wie „rein/unrein“ sind also zumeist sekundäre Zuschreibungen, um das nicht mehr logisch nachvollziehbare Tabu religiös zu begründen.
Die beiden Listen mit Speisevorschriften im Alten Testament (vgl. Lev 11, Dtn 14) lieferten die Grundlage für die jüdischen Speisevorschriften, die sogenannten Kaschrut. Dabei muss man sich die antike Sammlung von Speisevorschriften eher als Bündel einzelner Gebote vorstellen denn als die später durch die Rabbiner elaboriert ausgefaltete Systematik, zu der sie sich entwickeln sollte. Der Verzehr von Schweinefleisch sollte generell verboten werden, die dafür notwendigen Regeln wie das Gebot, nur wiederkäuende Tiere mit gespaltenen Hufen zu verspeisen, wurde eher nach dem Augenschein als nach einem wirklichen Kriterienkatalog befolgt. So fiel das Kamel unter das Nahrungstabu, obwohl es eigentlich in jedem jüdischen Kochtopf hätte landen können. Zentraler ist das Verbot, Blut zu genießen, da es als Sitz des Lebens galt. Daraus resultierte die Notwendigkeit, das Schlachttier zu schächten, also durch einen gezielten Schnitt durch die Halsschlagader schnell ausbluten zu lassen. Doch was sollte man mit Tieren anfangen, die überhaupt kein Blut im klassischen Sinne hatten?
Das alte Israel war ein Gebirgsvolk, kein Küstenvolk. Auch wenn die Jesus-Erzählungen später vor allem Fischer als Hauptakteure haben: Über den Genuss von Seafood machte sich die Thora nicht allzu tiefgehende Gedanken. Alles, was Flossen und Schuppen hatte, galt als Fisch und damit essbar. Was nicht darunter fiel, also beispielsweise alle Meeresfrüchte und Weichtiere, war verboten und ist es bis heute. Dahingegen verwendeten die späteren Rabbiner erstaunlicherweise viel Mühe darauf, den Verzehr von Schnecken zu verbieten und darauf mehrmals hinzuweisen. Teilweise gilt der Genuss einer Weinbergschnecke in Kräuterbutter also als schlimmer als der Verzehr von Schweinefleisch. Doch was ist mit unserer Heuschrecke?
Zur Heuschrecke hatte das Volk Israel eine etwas spezielle Verbindung. Zwar verboten die Kaschrut den Verzehr jedweder Insekten, doch machten sie für vier Heuschreckenarten eine Ausnahme. Denn diese Arten von Wanderheuschrecken waren dabei, als Israel im Sklavenhaus Ägypten ausharrte und Gott die sieben Plagen über den Pharao und das ägyptische Volk sandte. Quasi als „Dank“ für ihre Beteiligung am Exodus durften sie theoretisch auf den jüdischen Tellern der israelitischen Nachkommen landen. Doch das ist weitestgehend Theorie. Da die betreffenden vier Arten nicht mehr ohne weiteres zu bestimmen sind, die hebräischen Begriffe, mit denen sie bezeichnet wurden, nicht einfach übertragen werden können, sind viele Rabbiner dazu übergegangen, zur Sicherheit den Verzehr aller Heuschrecken zu verbieten. Liberaler sieht das die sefardische Welt, also die Juden Spaniens und Nordafrikas. Deren Rabbiner hielten oft an der Erlaubnis des Heuschreckenverzehrs fest. Regional entwickelte sich der Hunger auf Hüpfer aber äußerst unterschiedlich. Während bei den jemenitischen Juden Heuschrecken so selbstverständlich auf dem Teller landen, wie es bei anderen Völkern Nordostafrikas der Fall ist, hört man von heutigen europäisch sozialisierten Sefarden weitaus abwehrendere Töne. Eine wirklich nennenswerte Rolle spielt der Verzehr von Heuschrecken im Judentum demnach nicht. Es handelt sich um eine lokal begrenzte, kulturell bedingte Marginalie.
Dennoch ist diese Beobachtung wichtig für unsere eingangs gestellte Frage, ob sich Johannes der Täufer mit seiner Ernährungsweise auf dem Boden des Judentums bewegte. Er tat es. Johannes ist kein religiöser Rebell, der die Speisegesetze aufhebt, auch wenn er sich zumindest ungewöhnlich ernährt. Seine Askese dient der Inanspruchnahme einer prophetischen Tradition, die ihn in eine Reihe mit den Propheten Israels, allen voran Elija, stellen soll. Signifikant für ihn ist die Taufe, nicht eine etwaige Aufhebung der Gesetze.
Ein Prozess der Aufhebung der Speisegebote begann erst mit Jesus Christus und allen voran seinem Jünger Paulus. Die Evangelisten setzen dabei unterschiedliche Akzente in der Erzählung. Laut dem Evangelisten Markus erklärte Jesus alle Speisen für rein (vgl. Mk 7,15–19), allerdings wird dieses Jesuswort von Matthäus dahingehend abgeschwächt, dass für Jesus das Liebesgebot wichtiger war als die formellen Speisegebote. Virulent wurde die Frage erst, als sich das junge Christentum in einer heidnischen Umgebung auszubreiten begann. Wie die Geschichte zeigt, und das „Apostelkonzil von Jerusalem“ formulierte, setzte sich die Ansicht durch, dass die jüdischen Speisegebote nicht vollumfassend für die neugetauften Heidenchristen zu gelten hätten. Auch eine Möglichkeit, sich vom unterlegenen Judenchristentum zu distanzieren.
Doch nicht nur religiöse Speisetabus können eine Nahrungsquelle verschließen, auch säkulare Tabus sind am Werk. Dass in Europa keine Insekten verzehrt werden und deren Genuss teilweise als widerlich aufgefasst wird, hängt vor allem mit Letzterem zusammen. Der Verzehr von sogenannten Speiseinsekten wird wissenschaftlich als Entomophagie bezeichnet. Sie ist beileibe nichts Ungewöhnliches. Bei mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit landen ganz selbstverständlich Mehlwürmer, Raupen, Ameisen oder eben Heuschrecken auf den Tellern. Bis ins Mittelalter galt dies auch für Europa, dann verschwand der Insektenverzehr langsam vom europäischen Speiseplan. Bis Ende des 19. Jahrhunderts hielten sich allerdings noch Rezepte wie Maikäfersuppe in den Kochbüchern (siehe Rezept im Anhang), bis sie vor gut hundert Jahren gänzlich verschwanden. Eine Tabuisierung und damit einhergehend ein Ekelgefühl, das den Verzehr verunmöglicht, ist also eine verhältnismäßig junge Entwicklung und rational nicht vollständig erklärbar. Dass Insekten teils erntevernichtende Schädlinge sind und mit Krankheit, Plage und Schmutz assoziiert werden, ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich und auf verschiedene Arten angewandt. Zudem erklärt es kaum, warum, wie bereits erwähnt, der große Schädling Heuschrecke nicht unter die Tabuisierung beispielsweise des Judentums fiel. Auch im Falle dieses Tabus gibt es demnach keine allumfassende und generelle Erklärung, sondern vor allem regionale Spezifika. Und diese lassen sich ändern. Gerade im Bereich des Insektenverzehrs tut sich momentan einiges.
Schwieriger ist nach wie vor, das kulturelle Tabu zu durchbrechen. In Europa ist relativ viel Zeit vergangen, seitdem Insekten ein respektables Nahrungsmittel waren.
Ein sonniger Mittag in Freiburg. An einem der momentan so beliebten Foodtrucks bietet Lars Nungesser von „Krosshoppers“ ein verführerisches Mittagsmenü an. An einen orientalischen Bulgur-Salat schmiegen sich ein halbes Dutzend frisch gebratener Heuschrecken. Auf einem knusprigen Fladenbrot ist ein Aufstrich drapiert, der als „Grillenpaté“ angepriesen wird. Nach einem kurzen Blick in das Auge der Kreatur kann die Verkostung beginnen. Die Heuschrecke erinnert hinsichtlich der Konsistenz an frittierte Sardellen, die man bei griechischen Restaurants gern mitsamt Kopf und Gräten im Ganzen verspeist. Der Chitin-Panzer sorgt für angenehme Knusprigkeit wie bei der Haut eines Brathähnchens. Die Grillenpaté erinnert leicht an eine Leberwurst, rauchig und erdig. Alles in allem das exakte Gegenteil von ekelerregend. Warum also das so strikte Tabu?
Insekten bieten eine gute Proteinquelle, sind verhältnismäßig leicht zu züchten, haben eine gute Klimabilanz und sind weltweit in ausreichendem Maße vorhanden. Selbst wenn sie nicht jeden Versorgungsengpass lösen können, so bereichern sie doch das Speiseangebot. In vielen Teilen der Welt verzehren Menschen ganz selbstverständlich Insekten und deren Larven, zumeist Käfer, Hautflügler oder Schmetterlinge. In der EU, die im Rahmen der Novel-Food-Verordnung die Erschließung neuer Nahrungsquellen fördert, sind momentan Mehlwürmer, Hausgrillen, die europäische Wanderheuschrecke sowie der „glänzendschwarze Getreideschimmelkäfer“ zum Verzehr zugelassen. Dazu kommen bereits bekannte Kandidaten wie die Schildlaus, die den leuchtend roten Farbstoff für den Campari lieferte, sowie Beimischungen zum Brotbacken. Umfragen zufolge sitzt das Nahrungstabu noch tief, quer durch die Altersschichten. Bei einer Umfrage 2017 zeigten sich nur rund 20 Prozent der Befragten aufgeschlossen gegenüber dem Insektenverzehr. Doch können sich Ernährungstraditionen relativ schnell verändern, wie das Beispiel der Maikäfersuppe zeigt. Zudem sind Ekelgefühle auch innerhalb sehr naher Kulturen ungleich verteilt. Beispielsweise ist der Verzehr von Innereien in den USA kaum verbreitet, während sich Frankreich an Kalbsbries, gebratenen Nierchen und gedämpftem Hirn erfreut. Und dazu kommen noch Froschschenkel und Weinbergschnecken. Auf Sardinien bekämpft die EU erfolglos eine lokale Käsespezialität, die lebende Maden beinhaltet. Soziale Akzeptanz lässt sich also verändern und religiöse Speisevorschriften stehen zumindest im Christentum und teilweise im Judentum nicht im Wege. Was verhindert also noch den Siegeszug von Herrn Sumsemann und Co.?
Da ist vor allem der Preis. Entgegen dem Ideal der Erschließung neuer Nahrungsquellen für die hungrige, wachsende Weltbevölkerung ist Insektenverzehr in Europa, anders als in klassisch entomophagen Weltgegenden, noch eine Sache für zahlungskräftige Liebhaber. Lars Nungesser erklärt den momentan hohen Preis durch die vergleichsweise geringe Nachfrage und die dementsprechend kleinen Produktionsanlagen. Zudem werden Novel-Foods noch mit der vollen Mehrwertsteuer von 19Prozent besteuert. Er ist aber zuversichtlich. Insekten böten hinsichtlich des Futtermitteleinsatzes ein sehr gutes Verhältnis zur Biomasseproduktion, zudem könne man viele Insekten zu fast 100Prozent verspeisen. Natürlich unterliegen Speiseinsekten den gängigen EU-Standards hinsichtlich Aufzucht und Hygiene. Nungesser rechnet fest damit, in Zukunft seine Insekten günstiger anbieten zu können.
Schwieriger ist dagegen nach wie vor, das kulturelle Tabu zu durchbrechen. Maikäfersuppe hin oder her, in Europa ist relativ viel Zeit vergangen, seitdem Insekten ein respektables Nahrungsmittel waren. Historisch ist dies wohl auch mit der hiesigen Fauna zu erklären. Für die Entwicklung einer entomophagischen Kultur braucht es eine gewisse Verfügbarkeit an großen Mengen von essbaren Insekten, die sich verhältnismäßig leicht „ernten“ lassen. Soll heißen: Um genug Heuschrecken für einen sättigenden Eintopf zu sammeln, muss man sich hierzulande schon anstrengen. Da ist eine Kuh schneller geschlachtet und ergiebiger. Somit geht viel gastronomisches Wissen verloren. Wie der Küchen-Historiker Peter Peter, der an der Universität Salzburg den Lehrstuhl für Gastrosophie innehat, in seinem appetitanregenden Werk Geschichte der Französischen Küche überzeugend darlegt, ist solches Wissen allerdings nur verschüttet, nicht vergessen. Froschschenkel und Weinbergschnecken traf außerhalb Frankreichs dasselbe Schicksal wie die Vertreter der krabbelnden Zunft. Warum dieses Wissen nicht reaktivieren?
Es bleibt deshalb nur, geduldig abzuwarten, wie viele Europäer bereit sind, die „Johannes-Diät“ einmal auszuprobieren. Wer weiß? Vielleicht durchstreifen in Zukunft Kolonnen von Fußgängern die blühenden Sommerwiesen der Dörfer, um an den EU-Standards vorbei auf die Jagd nach einem frischen Mittagessen zu gehen. Weder Religion noch Küchenkanon wollen sie daran hindern. Wohl bekomm’s!
Rezept: Maikäfersuppe
Für eine köstliche Maikäfersuppe braucht man pro Person ca. 30 Maikäfer. Diese werden gewaschen, entbeint und in einem Mörser zerstoßen. Der Brei wird in Butter geröstet und dann mit heißer Fleischbrühe aufgekocht. Diese seiht man ab und richtet sie mit geröstetem Weißbrot und sonntags mit ein paar Scheiben Kalbsleber oder Truthahnbrust an.
Angeblich war die Suppe bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vor allem unter Studenten als kostengünstige und kräftigende Mahlzeit beliebt. Autor Schneider erwähnt hierzu: „Ist die Fleischbrühe auch schlecht, so wird sie doch durch die Kraft der Maikäfer vorzüglich, und eine Maikäfersuppe, gut zubereitet, ist schmackhaft, besser und kräftiger als eine Krebssuppe. Ihr Geruch ist angenehm, ihre Farbe ist bräunlich, wie die der Maikäferflügel. Nur Vorurteile konnte dieses feine und treffliche Nahrungsmittel, namentlich für sehr entkräftete Kranke, diesen entziehen.“
(Quelle: Schneider, Johann Josef, Maikäfersuppen, ein vortreffliches und kräftiges Nahrungsmittel. In: Magazin für die Staatsarzneikunde. Nr. 3, 1844)