"Vergiss Meyn nicht"Warum starb Steffen?

Umweltaktivistinnen und -aktivisten besetzen ein Waldstück, um es vor der Abholzung zu bewahren. Dann geschieht ein Unglück.

Der Protest gegen die Rodung des Hambacher Forstes polarisiert. Die einen stilisieren die Menschen, welche dort die Baumkronen besetzen, zu Helden, die anderen kriminalisieren sie zu Terroristen. Die Dokumentation Vergiss Meyn nicht zeigt: Nichts davon stimmt mit der Realität überein.

Der Journalist Steffen Meyn will das Leben und die Intentionen der Baumhausbewohnerinnen und -bewohner festhalten und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Mit Sensationsaufnahmen von Räumungen gibt er sich nicht zufrieden, sondern bildet auch den Alltag ab, die Konflikte innerhalb der Gruppe, Vermittlungsversuche der Polizei. Als das Gebiet für die Presse abgesperrt wird, findet er nachts einen Weg hinein und bleibt. Er sympathisiert mit den Protestierenden, er gehört irgendwie dazu und ist doch keiner von ihnen, Antrieb ist für ihn die neutrale Berichterstattung. Bei einer Räumungsaktion bricht ein Steg zwischen zwei Bäumen. Meyn stirbt durch den Sturz aus großer Höhe.

Der Film zeigt das Material seiner Helmkamera. Hineingeschnitten sind Aussagen einzelner Aktivistinnen und -aktivisten. Klar und reflektiert analysieren sie die Geschehnisse, erläutern ihre Motivation: Die Natur muss geschützt werden, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch als unser aller Lebensgrundlage. Keiner von ihnen hat Lust, in einem engen Baumhaus der Kälte zu trotzen und Polizeigewalt zu ertragen. Aber der Protest in Worten reicht nicht, physischer Einsatz stellt das einzig wirksame Mittel dar. „Ein Privileg in Deutschland ist es, dass ein menschliches Leben so ziemlich über allem steht. In dem Moment, wo du auf eine Brücke gehst, darf sie nicht gesprengt werden“, fasst ein Aktivist zusammen. So „einfach“ ist das. Und warum starb Steffen? Es war ein Unfall – der freilich nicht geschehen wäre, hätte es keine Räumung gegeben, hätte der Wald nicht besetzt werden müssen, würde RWE keine Kohle abbauen, würde unser Lebensstil nicht so viel Energie fressen… Keine Emotionalisierung, keine Schwarz-Weiß-Zeichnung. Auch die Regie versieht die Darstellungen nicht mit einem ideologischen Überbau, nimmt keine Interpretation des Gesehenen vor, vereinfacht und verallgemeinert nicht. Die Aufnahmen sprechen für sich und wirken gerade so besonders stark.

Durch all den nüchternen Pragmatismus hindurch tritt an manchen Stellen aber auch noch etwas zutage, das mehr scheint als „nur“ die Überzeugung, das Notwendige zu tun: der Glaube an die Sache, der optimistische Glaube, dass es funktionieren kann – wenn auch vielleicht nur deshalb, weil es funktionieren muss. Wenn nach einem Zwischenerfolg die Anspannung für einen kurzen Moment abfällt und sich die Freude darüber in gospelartigen Wechselgesängen Luft macht, bekommt die Atmosphäre sogar etwas Sakrales.

Aber warum überhaupt das Ganze? Was bringt es, sein Leben für die Erhaltung eines kleinen Waldstückes einzusetzen? Ist es nicht ohnehin zu spät und man kann nichts tun, als die Welt noch ein bisschen zu genießen, bevor sie untergeht? Auch solche Gedanken sind den Aktivistinnen und Aktivisten nicht fremd, auch darüber sprechen sie offen. Und dennoch entscheiden sie sich immer wieder gegen das Aufgeben. Weil ihr Protest zumindest ein Zeichen setzt. Weil ein paar gerettete Bäume den Klimawandel zwar nicht aufhalten, die Summe aller selbst noch so kleinen Dinge, die nicht resignativ unterlassen werden, „weil es sowieso nichts bringt“, sondern getan werden, sehr wohl Auswirkungen hat und weitere nach sich zieht. Lohnt sich das? Ja, sagt eine ehemalige Baumhausbewohnerin – und räumt gleichzeitig ein, dass Menschen, die in diesem Kampf ihr Leben verloren haben, vielleicht nicht zustimmen würden.


VERGISS MEYN NICHT
Deutschland 2023; Regie: Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl, Jens Mühlhoff; Länge: ca. 100 Min.

Der Film ist ab dem 21. September im Kino zu sehen.

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