Auch im neuesten Film des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki möchte man mehrmals aus dem Kinosessel aufstehen und den Helden eine helfende Hand reichen. Denn sie scheinen auf Verluste spezialisiert, werden vom Leben „wie Blätter im Herbstwind“ durcheinandergewirbelt: Ansa, die im Supermarkt einen „Null-Stunden-Vertrag“ hat, verliert ihren Job, weil sie ein Päckchen Brot mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum in ihre Tasche gesteckt hat. Nun spült sie Gläser in einer eher zwielichtigen Bar – doch ihr Chef wird kurz vor der anstehenden Gehaltsauszahlung verhaftet. Holappa ist Schweißer und hat ein dickes Alkoholproblem. Er ist deprimiert, weil er so viel trinkt, er trinkt so viel, weil er deprimiert ist. „Ein Zirkelschluss“, sagt ein Freund, was Holappa auch nicht weiterbringt. Nach einem Arbeitsunfall, bei dem Alkohol im Spiel ist, wird er entlassen; sein Abstieg, der Weg in eine billige Pension scheint vorprogrammiert.
Ansa und Holappa sind einsam, wortkarg, „finnisch“-schwermütig. Im Laufe des Films nähern sie sich einander an, was auf ein Gegenstück zu klassischen Hollywood-Schmonzetten wie Pretty Woman hinausläuft. Kein Glitzer, nirgends, kein Ausbruch aus der Alltagstristesse am Rande der Stadt, nicht einmal Gut gegen Böse. Und doch ist es ein beglückender Film mit schönen Menschen und schönen Kleidern, mit einem trockenen Humor, der für die nötige Distanz sorgt, mit Musikstücken, die auch in einer Karaoke-Bar ihren Zauber nicht verlieren, ja betören. Das gilt für finnische Volkslieder genauso wie für Schuberts Serenade: „Leise flehen meine Lieder...“
Ein Liebesfilm über zwei sympathische Verlierer also? Ja, und noch mehr als das. Es spricht für die hintergründige, große Kunst des Regisseurs, dass er nicht bei einer „Loser-Romantik“ stehenbleibt; dass er auch in seinem 20. Spielfilm keine Illusionen anbietet, und doch niemals vergisst, inmitten der ganz gewöhnlichen Lebenshärte Momente des Glücks auszustreuen. Als Ansa bei ihrem „Diebstahl“ erwischt wird, zeigen sich ihre Kolleginnen überraschend solidarisch, bezeugen die Absurdität der vorschriftsgemäßen Entsorgung von Lebensmitteln. Und Holappas Idee, für den ersten gemeinsamen Kinobesuch ausgerechnet den Zombiefilm The Dead Don’t Die auszusuchen, mag nicht die klügste scheinen. Doch erkennt Ansa das Groteske solcher Filmexzesse, kann darüber lachen. Und im Vorbeigehen bietet der Verweis eines kundigen Kinogängers auf Parallelen zu Luc Bressons Verfilmung des Tagebuchs eines Landpfarrers eine feine Pointe. Sogar die Tatsache, dass Ansa für das Abendessen mit Holappa erst einen zweiten Teller kaufen muss, deprimiert nicht wirklich. Solche Äußerlichkeiten lassen sich ja schnell beheben – anders als Holappas Trunksucht: „Ich mag dich sehr“, sagt Ansa. „Aber einen Säufer nehme ich nicht.“ Hier bricht die Beziehung zunächst ab, und es bedarf mancherlei Zufälle, mehr noch: kleiner Wunder, um ihr eine Fortsetzung zu schenken.
„Wirklich leben können wir nur in der Niederlage. Die Freundschaften werden tiefer, die Liebe erhebt ihr wachsames Haupt. Sogar die Dinge werden rein“, heißt es in einem Gedicht von Adam Zagajewski. Kaurismäkis Fallende Blätter scheint diese Verse zu buchstabieren. Nein, niemand sehnt sich nach Verlust und Niederlagen. Aber sie gehören zu uns, schreiben in der Tiefe an unserer Lebenserzählung. So auch bei Ansa und Holappa, die taumeln und fallen, um wieder aufzustehen. Am Ende des Filmes, als Ansa Holappa wieder trifft, hat sie einen Hund dabei: „Er heißt Chaplin.“ Der Zuschauer lächelt einmal mehr und wünscht den beiden, die über einen großen Platz hinwegschreiten, viele Momente des Glücks.
FALLENDE BLÄTTER
Finnland 2023; Regie: Aki Kaurismäki; Länge: ca. 80 Min.
Der Film ist aktuell im Kino zu sehen.