Einfach nur noch schweigen solle die Kirche, wenn es um Liebe, Sexualität und Beziehung geht – so die Meinung vieler, die angesichts der kirchlichen Haltung zur Gender-Debatte oder im Blick auf das Katechismus-Verdikt zur Homosexualität, die als „schwere Sünde“ qualifiziert wird, aus kirchlichem Munde nichts mehr Weiterführendes diesbezüglich erwarten. Dabei sind es Lebensthemen, um die es geht. Wer ersehnte das nicht: zu lieben? Wer hoffte nicht darauf: einen Menschen zu finden, mit dem man durchs Leben gehen möchte? Und wer kennt das nicht: die Freuden und Leiden eines solchen Wegs, seine Herausforderungen und Sackgassen, seine Aussichtspunkte und Oasen? Dass Menschen, die im Glauben verwurzelt sind, in ihrer Glaubensüberzeugung eine Ressource sehen, um mit der Lebensherausforderung von Liebe und Beziehung einen guten Weg zu finden, ist mehr als naheliegend. Dass Religion und Kirche das eigentlich immer wussten, zeigt der Blick in die Geschichte. Dass dieser Weg momentan offenbar für viele nicht mehr einladend ist, liegt ebenso auf der Hand.
Der Brixener Moraltheologe Martin M. Lintner ist diesem Zusammenhang seit vielen Jahren auf der Spur. Den Eros entgiften, so lautete der Titel seines frühen Buchs zu christlichem Glauben und Sexualität. Sein jetzt erscheinendes Werk ist von einem anderen Kaliber. Es ist ein heute vielleicht gerade noch mögliches, aber eigentlich schon kaum mehr erwartbares Monument einer Klärung. Denn die Gründlichkeit, mit der Lintner die „Entwicklung der kirchlichen Ehelehre“ diskutiert, bevor er die „biblischen Grundlagen einer erneuerten Ethik der Sexualität und der Beziehung“ beleuchtet und schließlich daraus eine neue Beziehungsethik formuliert, kann nur jemand leisten, der selbst tief in kirchlicher Tradition und theologischem Denken verwurzelt und daran noch interessiert ist – aber nicht in restaurativer oder identitätspolitischer Absicht, sondern in einem Geist dynamischer Verkündigung. Lintner, der in der Südtiroler Berg- und Landwirtschaftswelt groß wurde, als Ordenspriester der Serviten einen weltzugewandten Katholizismus lebt, ist so jemand und vielleicht einer der Letzten, die zu solchen Beiträgen noch in der Lage sind. Denn dass sich jemand derart intensiv und mit intellektueller Empathie auf die Verästelungen der Theologiegeschichte einlässt und alle Bewertungen stets vor dem eigenen, skrupulös verantworteten Glaubensgewissen vornimmt, ist immer weniger selbstverständlich in einer Welt, die Glaube und Vernunft an sich schon voneinander geschieden hat.
Die dichten Studien zu Epochen und biblischen Befunden in diesem Buch sind kein Selbstzweck. Sie dienen einem Ziel: Es geht um eine heute lebbare und hilfreiche christliche Ethik, die den Namen verdient. Diese soll, so der Autor, eine „Befähigungsmoral“ sein, die nicht als erstes Ziel hat, Normen zu formulieren, an denen menschliches Verhalten gemessen wird, sondern als „tugendethische Grundlegung einer als Beziehungsethik verstandenen Sexualmoral“ zu verstehen ist. Es geht Lintner darum, aus Geist, Buchstabe und Tradition des Christentums so etwas wie sexuelle Selbstbestimmung zu begründen und damit christliche Ethik auch in Fragen von Sexualität mit dem Menschenrechtsdiskurs zu verknüpfen. Sexualmoral nimmt dann den Modus eines Beziehungsgeschehens in sich auf, und Liebe wiederum ist die Chiffre für eine im christlichen Sinne gelingende Idealgestalt davon.
Lintners Buch überzeugt in vielerlei Hinsicht. Vielleicht am wichtigsten: Es ist breit in der Wahrnehmung von Themen und Perspektiven. Das Risiko sexualisierter Gewalt, die Machtförmigkeit von Beziehungen und die grundständige Verwundbarkeit des Menschen, die Frage nach Geschlechtsidentitäten, Pornografie, Prostitution und Selbstbefriedigung, eine Spiritualität des Ehelebens u.v.m. werden erörtert. Fundamentalethisch-anthropologische Fragen stehen neben der Diskussion, ob nicht das Verständnis vom Ehesakrament weiterzuentwickeln wäre: Was wäre zu halten davon, ähnlich der Dispens vom Ordensgelübde auch eine Dispens vom Eheversprechen einzuführen, wenn die Voraussetzungen, dieses zu halten, nicht mehr gegeben sind?
Dieses Buch ist Moraltheologie at its best, weil sichtbar wird: Es braucht eine Brückendisziplin, eine Vermittlungsinstanz zwischen den Erfahrungswelten der Gegenwart und einem Erbe der Tradition, die ja selbst nichts Fixes ist, sondern immer wieder neu gelesen und ausgelegt werden muss. Und Lintner schreibt so, dass man gerne und mit Spannung liest. So sind die mehr als 600 Seiten auch nicht abschreckend, zumal man sehr gut selektiv lesen kann: die Ausführungen zu den vielen Einzelfragen, zu Kriterien ethischer Bewertung, die Auslegung biblischer Einzelstellen, historischer Etappen und kirchlicher Dokumente können auch separat mit Gewinn zu Rate gezogen werden.
Wenn es noch eine christliche Moral in Sachen Liebe, Beziehung und Sexualität geben kann, dann so wie hier vorgeschlagen. Die Ausführungen sind beeindruckend – und zugleich stellt sich ein melancholischer Unterton ein: Das Werk leistet eine Arbeit, die nur dann nötig ist, wenn man davon ausgeht, dass die kirchliche Institution auch weiterhin etwas zu sagen hat, was jemand hören möchte. Wer die Debatten um Synodalität oder das elende Ringen um eine verantwortungsvolle Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs anschaut, wird Zweifel daran hegen. Das Paradox ist ja: Zu einer Kirche, die sich innerlich damit windet und es machtförmig verweigert, ihre monarchistische Grundordnung nachhaltig zu verändern, passt eine Moral, wie Lintner sie mit guten Gründen vorschlägt, eigentlich gar nicht. Dass einem wie ihm jüngst die kirchliche Unbedenklichkeit für das Dekansamt an seiner theologischen Fakultät in Brixen abgesprochen wurde, sagt eher etwas aus über die Problemblindheit der römischen Kirchenleitung als über die im besten Sinne kirchliche Grundhaltung des Autors. Einer Kirche, die das nicht sieht, ist nicht zu helfen.