Für den Studenten Erich Garhammer war Joseph Ratzinger „ein theologisches Genie“. Bei einem Vortrag von Paul Ricœur, den Ratzinger synchron übersetzte, wurde ihm klar: „Nicht nur eine theologische Begabung, sondern auch ein sprachlicher Könner stand hier am Pult.“ Gleichzeitig stellt er bereits im Vorwort seines Buches fest: „Ich behaupte, dass die Beurteilung des Synodalen Wegs durch Rom nicht zu verstehen ist, wenn man nicht die jahrzehntelange Prägung des römischen Blicks auf Deutschland durch Joseph Ratzinger in Rechnung stellt.“
Garhammer hat Ratzinger – je länger, je mehr – vor allem als Bewahrer der kirchlichen Tradition kennengelernt. Der Autor illustriert dies mit einer Episode: Während seiner Dissertationsrecherchen sprach er Ratzinger einmal auf das vernichtende Gutachten an, das Clemens Maria Hofbauer (1751–1820) über Johann Michael Sailer (1751–1832) angefertigt hatte. Damit wurde dieser seinerzeit als Bischof von Augsburg verhindert. Als Präfekt der Glaubenskongregation entgegnete Ratzinger trocken: „Man weiß ja nicht, wie ohne solche Interventionen der Weg und die Entwicklung von Sailer verlaufen wäre.“ Da stand für Garhammer fest: „Die neue Aufgabe hatte den Theologen Ratzinger geschluckt.“
Auch Garhammer selbst wurde seine kritische kirchenhistorische Sicht später fast „zum Verhängnis“, wie er weiter schreibt. Und das sogar auf ähnliche Art und Weise, mit einem Gutachten. 1991 sollte er auf den Paderborner Lehrstuhl für Pastoraltheologie berufen werden. Allerdings hatte die Glaubenskongregation ein negatives Gutachten über ihn angefertigt. Damit sollte das Nihil obstat (die kirchliche Unbedenklichkeitserklärung; wörtl.: „Es steht nichts entgegen“) verhindert werden. Nur durch das Festhalten des damaligen Erzbischofs Joachim Degenhardt – der „keinen zweiten Fall Drewermann riskieren“ wollte – habe Garhammer die Professur doch bekommen.
Garhammers Resümee lautet schon am Beginn des Buchs: Ratzinger „wurde zum Wächter der Theologie, zum Gendarm der Theologie. Er gründete keine wissenschaftliche Schule, er ging einen anderen Weg: über das kirchliche Amt konnte er für die weltweite Rezeption seiner Theologie sorgen.“ Ist diese These stichhaltig? Kann sie überzeugen – jenseits der persönlichen Verwundung, die der Autor in sechs Kapiteln verarbeitet?
Erich Garhammer beginnt beim Konzil, auf dem Ratzinger dem Kölner Kardinal Josef Frings zuarbeitete. In der von ihm für Frings verfassten, von Papst Johannes XXIII. gelobten Genueser Rede (Che bella conicidenza del pensiero) taucht bereits ein für Ratzinger programmatischer Ausdruck auf: „Relativismus“. Hier freilich noch mit der bemerkenswerten Formulierung: „Relativismus muss nicht in allen Stücken etwas Schlechtes sein.“ Später drehte sich das bei Ratzinger völlig, er warnte vor der „Diktatur des Relativismus“. Aber auch schon 1965 konnte man bei ihm lesen, dass Erneuerung bisweilen mit Verwässerung und Verbilligung verwechselt werde.
Und noch ein weiteres zentrales Motiv arbeitet Garhammer heraus: „Die Demut der einfachen Gläubigen wird für Ratzinger zum Zentralpunkt seiner Theologie; der Hochmut der Theologen dagegen wird zur Gefahr für die Kirche.“ Am Konflikt um den Hirtenbrief der oberrheinischen Bischöfe Oskar Saier, Walter Kasper und Karl Lehmann in Sachen Kommunionempfang für wiederverheiratete Geschiedene von 1993 zeigt Garhammer, wie die Argumentation Ratzingers auf „Kontinuität“ ausgerichtet war: „Das ist ein signifikantes Beispiel einer eliminatorischen Theologie des Amtes.“ Ratzinger habe mit allen Mitteln ein „Lehramt der Theologen“ verhindern wollen. Das von ihm als Papst später ausgerufene „Jahr des Priesters“ (2009), in dem Johannes Maria Vianney als Vorbild der „Reinheit“ vorgestellt wurde, nennt Garhammer eine „sazerdotale Immuntherapie gegen Reform“.
Jetzt schließt sich der Kreis bis hin zu den Vorbehalten, die Papst Franziskus gegen den Synodalen Weg in Deutschland hegt, und zu den negativen Narrativen, die auf deutsche Reformwünsche mit dem Hinweis reagieren, da sei alles „zu wenig geistlich“ formuliert. Garhammer resümiert (in dem Fall auf Kardinal Marc Ouellet gerichtet): „Hier war die Ratzinger-Theologie glasklar formuliert: Es geht um ein Projekt einer Professorenkirche, die die Veränderung der Kirche betreibe, deren Kontinuität aufs Spiel setze und damit die einfachen Gläubigen verletze.“ Benedikts Plädoyer für die „Entweltlichung“ der Kirche (2011 in Freiburg) – deren Wortwahl auch Kardinal Karl Lehmann kritisierte – war im Blick auf Ratzingers Lebensweg und Theologenlaufbahn nur konsequent, so „ratlos“ sie viele zurückließ, die sich dagegen wehrten, wie hier Struktur- und Glaubensfragen gegeneinander in Stellung gebracht wurden.
Im Epilog seines Buches setzt Garhammer noch eins drauf: Mit seinem Brief an den neuen Präfekten des Dikasteriums für die Glaubenslehre, den argentinischen Neu-Kardinal und engen Papstvertrauten Víctor Manuel Fernández, habe Franziskus „die Theologie von Joseph Ratzinger ,aufgehoben‘“. Im Hegelschen Sinne mag das stimmen. Die Intention des Papstes war das aber eher nicht. Er meinte die Methoden, die Ratzinger anwendete, weniger seine Inhalte.
Mit seinem Hinweis auf eine anwachsende „Einhegung des Konzils“ hat Garhammer sicher recht. Auch damit, dass er auf eine Gefahr oder eine Versuchung hinweist, der das Institut Papst Benedikt XVI. in Regensburg unterliegt: „die Tendenz der ,Umschreibung‘ seiner Theologie und der Marginalisierung des frühen Ratzinger“. Wenn Papst Franziskus seinem neuernannten Glaubenspräfekten einschärft, dass die Kirche „das Charisma der Theologen und ihre wissenschaftlichen Bemühungen ermutigt“, ist das allerdings auch kein Freibrief für ein „Parallellehramt“ – ein Feindbild, das Ratzinger konsequent konstruiert und bekämpft hat. Sein Nachfolger wiederum wollte sich „nicht mit einer Schreibtisch-Theologie zufriedengeben“ (Evangelii gaudium 133) und warnte in Amoris laetitia davor, „im Reden über die heikelsten Themen eine kalte Schreibtisch-Moral zu entfalten“ (AL 312). Dieser Versuchung erlag Ratzinger immer wieder. Die Tendenz, dass seine „Ämter“ die Theologie „geschluckt“ haben, kann man mit Garhammer nicht von der Hand weisen.