Ich glaube, ich gehöre schon lange zu dieser immer größer werdenden Gruppe von Menschen, die Huub Oosterhuis als „beseelter Verband“ bezeichnet. Diese Menschen bewegen sich seit Jahrzehnten innerhalb wie außerhalb der institutionell verfassten katholischen Kirche, vor der sie zunehmend ihren Glauben in Sicherheit bringen. Sie atmen auf, wenn im Gottesdienst an der Stelle des Credo Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr gesungen wird. Sie verzweifeln an der Kirche des Missbrauchs und leben gleichzeitig ihr Christsein in der Hilfe für Geflüchtete oder bei der „Tafel“. Sie trauen Gedichten mehr als Hirtenworten. Unter ihnen gibt es diese ganz eigene Verbundenheit, inspiriert durch eine biblisch geprägte Spiritualität, die Poesie und praktisch gelebte Humanität in sich vereint. Aus erstarrten Rubriken kirchlicher Sprache sind sie ebenso ausgezogen wie aus urteilenden Lehrgebäuden der Wissenden, die keinen Wohnraum für die Suchenden und ihr Leben mit seinen Ambivalenzen bieten. „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ Vielleicht beschreibt das Wort, das dem persischen Mystiker Rumi zugeschrieben wird, am besten diesen weiten Raum, dessen Maße durch biblische Geschichten, Bilder und Visionen bestimmt werden. Es ist der Treffpunkt derer, die innerlich und zum Teil auch äußerlich den Befreiungsweg, den Exodus aus der Kirche vollzogen haben. Und dieser Treffpunkt liegt, wie sollte es anders sein, in der Wüste. Dort wohnen wir – in Zelten aus Poesie und Liedern.
Vor wenigen Wochen erschien erstmalig auf Deutsch ein Essay, in dem Oosterhuis beschreibt, was für ihn biblische Spiritualität ausmacht. Eigentlich geht es ihm in dem Text aber um nicht weniger als um „alles“. Das Büchlein trägt den Titel Geworfen in die Weite. Meine Hoffnung. Huub Oosterhuis träumt darin den Traum von einem „Haus, wo alles wohnt“ – eine Metapher für eine Gemeinschaft, der er sich zugehörig fühlt, aber auch ein Bild „für alles, worauf ich einmal hoffte und wobei ich mitmachen wollte und wozu ich noch gehören will: ,beseelter Verband‘“. Er nimmt die Leserinnen und Leser mit in seinen Innenraum, den sich jeder Mensch einrichtet mit all dem, was zu einem „Ich“ dazugehört. Diesen Innenraum nennt er „Seele“. Angefüllt ist er mit biblischen Bildern, in denen sich Oosterhuis mit seiner Sehnsucht wiederfindet. So schreibt er über Psalm 8, er besinge eine Glückserfahrung, die ihm vertraut sei: „Dieses Wissen von Verbundenheit, der Himmel und Erde und alles angehören – die Intuition, ,dass an dich gedacht wird‘ – dass dein Getrenntsein, deine Ohnmacht, deine Entfremdung nicht die letzte Wahrheit sind – dass du bedroht, aufgescheucht, flüchtig bist, doch gekannt und umgeben.“ Oosterhuis schildert den Moment, in dem er als 17-Jähriger in den Sternenhimmel schaute und vor allem Verbundenheit spürte: „Wir, das Universum und ich, sind aus ein und derselben Hand. Wusste ich, ,in einer Wolke von Nichts-Wissen‘ – ich wusste es sicher – für einen Augenblick“.
„Diese Erzählung über
Jesus – mir ist manchmal,
als wäre sie mir ein letztes
Wort: Du, der du mich
verlassen hast, ich
verlasse dich nicht.“
– Huub Oosterhuis
Ich finde mich in diesen Worten wieder. Es sind diese Formulierungen, in denen Oosterhuis über Jahrzehnte eine neue Verbundenheit geschaffen hat, vor allem für die vielen, die sich in den Kirchen nicht mehr zu Hause fühlen, „die sich von der jahrhundertelangen Kirchlichkeit losgesagt haben, um sich der Quelle ihrer Tradition zu nähern: der großen biblischen Geschichte“. Dieser „außerkirchlichen Kirche“, wie Oosterhuis sie nennt, fühle ich mich tatsächlich schon lange zugehörig. Es ist, als sei ich gemeinsam mit vielen anderen gleichsam mit der Bibel unter dem Arm in der Kirche aus der Kirche ausgezogen. Der Ort, wo wir uns treffen, ist Wüste und Weite, Heimatlosigkeit und Befreiung.
Ja, Huub Oosterhuis hat mich und viele andere Menschen mit seiner Poesie befreit. Zuerst von einer liturgischen Sprache, die zwar feierlich ist, aber zu eindeutig, als dass ich mich mit meinem vielschichtigen Leben in ihr zu Hause fühlen könnte. Ich erinnere mich noch genau: Es begann damit, dass ich als Kaplan in einer Karfreitagsliturgie die traditionellen Großen Fürbitten durch Formulierungen von Oosterhuis ersetzte. 1994 war das für mich noch so etwas wie ein mutiger Schritt. Es war nur ein erster Schritt auf einem langen Weg.
Immer begleitete mich auf diesem Befreiungsweg ein Gefühl von Verbundenheit in einem weiten Raum. Huub Oosterhuis hat diesem Gefühl eine Stimme gegeben, wenn ich seine Texte las oder mit anderen seine Lieder gesungen habe. Regine Laudage-Kleeberg hat dieser Erfahrung in jüngster Zeit mit dem Titel ihres Buches den vielleicht besten Namen verliehen: Obdachlos katholisch. Auf dem Weg zu einer Kirche, die wieder ein Zuhause ist (erschienen im März). Oosterhuis beschreibt seine Sehnsucht in dem Essay mit folgenden Worten: „Ich will nicht nirgends dazugehören, ich will nicht geschieden sein, abgesondert, mir selbst überlassen, ich will nicht abhandenkommen, unauffindbar werden, mich entfremden, ich will mit den Menschen verbunden sein.“
Diese Verbundenheit hat für ihn eine tätige Außenseite. Sie bezieht sich auch auf die Menschen, mit denen ich konkret in der Gesellschaft zusammenlebe, vor allem auf jene, die nicht auf der Seite der Macht stehen. Aus der Bibel heraus entfaltet Oosterhuis eine Haltung, die er als „humane Sensibilität“ bezeichnet: „Lernen, von anderen her zu denken, insbesondere von denen, die klein gemacht, bedroht, auf der Flucht oder arm sind. Dass man lernt, die Welt mit den Augen der Armen, der Geflüchteten und der Vertriebenen zu sehen, für die die Welt unsicher und bedrohlich ist. Das ist Zivilisation.“
Für alle, die sich auf diesen Weg der biblischen Spiritualität der Nächstenliebe einlassen, verbindet sich damit auch die Erfahrung, sich zu politisieren. Mindestens genauso wichtig wie die Begegnung mit Huub Oosterhuis war deshalb für mich in meinem Studium die Begegnung mit der Theologie der Befreiung, der sich auch Oosterhuis verbunden fühlte. Bibel, Politik und Poesie – in diesem Koordinatensystem erlebte ich mich immer mehr zu Haus und gleichzeitig kirchlich heimatlos, in Spannung zu der institutionellen Kirche, die, wie es Oosterhuis formuliert, „die Absolutheit des ursprünglichen biblischen Appells aufgegeben und das hohe Ideal der Verantwortung aller für eine bewohnbare Welt gegen die Idee der ,persönlichen Erlösung‘ eingetauscht“ hat.
Oosterhuis hat sich entschlossen, unabhängig von der Kirche die Visionen der Bibel von einer gerechteren und friedlichen Welt ernst zu nehmen und er hat mit sich selbst vereinbart, „sich nach ihrer Erfüllung zu sehnen. Und ich habe mich auch bereiterklärt, auf das Gute zu vertrauen, das überall geschieht.“ Er lädt dazu ein, sich dieser Vereinbarung anzuschließen und sie immer wieder zu erneuern.
Ich bleibe wie viele andere mit den Träumen von Huub Oosterhuis auf dem Weg der Befreiung, auf dem es kein Zurück gibt, wenn man ihn einmal eingeschlagen hat. Und ich bin dankbar für die Erfahrung des „beseelten Verbands“, „wo die große biblische ,Wir Menschen-alles-für-alle‘-Geschichte gelesen, buchstabiert, gesungen, befragt, ausgelegt, bezweifelt, angefochten, befürwortet und wieder gesungen wird, als ob das Leben davon abhängt. Und das tut es auch.“