Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wurde von Anfang an von verstörenden Bildern begleitet. Dies betraf nicht nur die Kriegshandlungen selbst und das Leid der Bevölkerung. Ebenso unbegreiflich wirkte der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill. Nicht erst seit seiner Predigt, russische Soldaten könnten als Märtyrer direkt mit dem Eintritt ins Paradies rechnen, scheint die russische Orthodoxie in einer unheiligen Allianz mit dem diktatorischen Regime Wladimir Putins gefangen. Zahlreiche deutsche Beobachterinnen und Beobachter merkten auch, dass sie generell wenig von den orthodoxen Glaubensgeschwistern im Osten wussten. Man hatte sich jahrelang mit halbdunklen Ahnungen von Weihrauch und Gold zufriedengegeben. Außerdem wusste man, dass „die Russen“ schön singen. Doch von Geschichte und Selbstverständnis der Orthodoxie hatte der durchschnittliche westeuropäische Christ keinerlei Ahnung.
Hier setzen mehrere Neuerscheinungen an. Der ebenso vielreisende wie vielschreibende Kulturwissenschaftler Gerhard Schweizer versucht in Kreuz und Schwert – Geschichte, Glaube und Politik der orthodoxen Kirchen eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Rolle das orthodoxe Christentum in aktuellen politischen Konflikten spielt. Dafür nimmt er insbesondere die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche in den Blick. Doch nicht nur. Auch die Balkanregion und Griechenland liefern Anschauungsmaterial dafür, wie sehr christlicher Glaube und politische Spannung in diesen Regionen historisch und aktuell verwoben sind.
Schweizer wählt einen recht holzschnittartigen Überblick über die Jahrhunderte und spannt einen Bogen vom Beginn der byzantinischen Verbindung von Thron und Altar, der sogenannten Symphonia, über die mystische Taufe Fürst Vladimirs 988 in Kiew und die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 bis zu den Balkankriegen der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Leider übergeht Schweizer dabei wichtige Ereignisse wie die gescheiterte Einigungssynode von Ferrara-Florenz 1439.
Der Autor vertraut vornehmlich auf die Erfahrungen seiner Reisen in die Regionen und die zahlreichen Begegnungen mit gläubigen Laien und Priestern. Seine Analyse ist geprägt vom irritiert-staunenden Blick des aufgeklärt-säkularen, protestantisch geprägten Westeuropäers, der angesichts der vorgeblichen Irrationalismen eines „traditionellen“ Glaubens Antworten finden muss. Für Schweizer liegt die Wurzel der fatalen Verknüpfung von übersteigertem Nationalismus und orthodoxem Wahrheitsanspruch in einer nie stattgefundenen Aufklärung. Die osteuropäischen Herrscher, die über die Masse an orthodoxen Gläubigen regierten, hätten – wenn überhaupt – nur eine „unvollständige“ Moderne gebracht, die technischen Fortschritt ohne gesellschaftlichen Wandel propagierte.
Diese Analyse überträgt der Autor auch auf die heutige Situation in Russland. Gleichzeitig stellt Schweizer eine allgemeine Religionskrise fest. Ein Änderungspotential sieht er konfessionsübergreifend in einer Entwicklung weg von einem amtskirchlichen Verständnis hin zu einer individuelleren Theologie der Spiritualität, die einen interkonfessionellen wie interreligiösen Dialog ermöglicht.
Einen Zugang von Seiten der Wissenschaft, der sich dennoch an ein breites Publikum wendet, wagen Marco Besl und Simone Oelke, die den Band Politische Macht und orthodoxer Glaube herausgegeben haben. Als Frucht einer Tagung versammelt der Band Untersuchungen zahlreicher (Nachwuchs-)Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zum Verhältnis von Politik und Religion in der Orthodoxen Kirche. Hartmut Leppin etwa legt die Anfänge des Symphonia-Gedankens unter dem oströmischen Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert frei. Sie ist vor allem Ausdruck der Sakralisierung des Herrschers. Regina Elsner stellt das System der selbstregierenden, „autokephalen“ orthodoxen Kirchen vor, die dem Patriarchen von Konstantinopel zwar ein Ehrenprimat, nicht aber die Herrschaft einräumen. Ebenso wenig dem russischen Patriarchen, obgleich sich dieser als Erbe der Byzantiner versteht. Das gut lesbare, faktenreiche und analysestarke Büchlein schließt mit einer Betrachtung moderner Ikonographie, deren eindrücklichstes „Exponat“ die neue Hauptkirche der russischen Streitkräfte bei Moskau ist. Hier wird deutlich, dass es überhaupt keine tiefsitzenden, unaufgeklärten religiösen Überzeugungen braucht, um eine fatale Verbindung von Religion und Politik zu schaffen. Die kulturelle, identitätsstiftende Rolle, die Religion in einer unsicheren, vom täglichen Überlebenskampf geprägten Realität bietet, erreicht auch den gleichgültigen, „lauen“ Gläubigen.