Gleich der Titel lässt aufhorchen: Wer hat es schon mit dem Himmlischen, wo es uns doch ständig um das Irdische geht? Aber der biblische Vers aus der Abschiedsrede des Mose (Dtn 32,1) markiert sofort Auftrag und Eigenrecht der Theologie: Gilt es doch, das in der Tat himmelschreiende Unrecht dieser Erde göttlich zu adressieren – und das im Namen jenes Gottes, der seinerseits das Schreien seines Volkes hört und daran höchst persönlich Anteil nimmt. Und beides will im eigenen Nachdenken und Mitvollziehen verantwortet sein. Theologie lässt sich authentisch nur realisieren mit dem Mut zur unverwechselbar eigenen Existenz und Überzeugung: Ich will reden, ja ich muss es verantworten, die eigenen Fragen und Klagen, Zweifel und Hoffnungen gehören dazu.
Genau diese existenzhermeneutische Perspektive gibt den sechs theologischen Meditationen des Frankfurter Theologen Knut Wenzel ihr besonderes Gewicht. Es geht um eine „Neuvermessung von Gottesgedanke, Menschenbild und Kirchenverständnis“ – und zwar nicht an den Leidens- und Gewaltgeschichten vorbei, sondern in ihnen, ja aus ihnen. Der biblische Gott kommt ja nie sekundär zu unseren Krisen erst hinzu, nein, in ihnen zeigt sich seine Gegenwart und bewährt sich seine Ankunft je neu: im Kreuz ist das Heil, in der Schöpfung und ihrem Seufzen zeigt sich die Kraft des Geistes.
Also: „Wozu noch Theologie?“ Diese zentrale Meditation, aus einem Projekt des Bistums Limburg zur Bewältigung der Missbrauchskrise erwachsen, ist eine grundsätzliche Vermessung des verminten Geländes. Nichts ist ja mehr selbstverständlich, jedenfalls am Christentum in kirchlicher Rahmung: zu viele Fragen angesichts von Aufklärung und Moderne, zu viel Schuld und Scham angesichts der gigantischen Selbstschädigung durch die Missbrauchsverbrechen. Wie da von dem Geheimnis sprechen, das wir Gott nennen, oder gar zu ihm? Jedenfalls „fern-nah“ ist er uns geworden, wie Wenzel mit Margarete Porete unterstreicht, der tapferen Schwester Meister Eckharts.
„An Gott zu glauben
wird durch die Erfahrung
sinnlosen Leids zugleich
unmöglich und notwendig.“
– Knut Wenzel
Besondere Schmerzpunkte des Fragens sind Gewalt und Leiden, also Missbrauch jedweder Art. „An Gott zu glauben, wird durch die Erfahrung sinnlosen Leids zugleich unmöglich und notwendig. Unmöglich wird die Unterstellung eines immer schon gegebenen Sinns; notwendig wird die Offenheit für einen vielleicht, wer weiß, doch noch sich einstellenden Sinn.“ Mit Recht widerspricht Wenzel denen, die diese Theodizee-Not mit dem Hinweis auf den mitleidenden und ohnmächtigen Gott beheben wollen und den Abschied empfehlen von seiner Allmacht: Was aber wäre ein Gott, der nicht wirkt und Wirkung zeigt? Originell ist der Vorschlag, Gottes allwirkende Gegenwart als Höflichkeit zu buchstabieren: stets zugewandt und verlässlich präsent, aber höchst diskret und Dialogräume eröffnend, einem Gastgeber gleich. In diesem Sinne höflich ist jedenfalls auch die Tonlage von Wenzels Überlegungen überhaupt – einladend, zuhörend, fragend, aber auch zu Antworten bereit und fähig, wo gefragt wird.
Schöpfung und Kreuz stehen im Mittelpunkt des Christlichen, daher rühren Weltbejahung und Leidsensibilität. Gerade der Auferstehungsglaube nötigt dazu, sich für das Ausmaß von Verwundbarkeit und Verletzung in allen Lebensbereichen berührbar zu machen und alles Erdenkliche zu tun, um zu helfen und zu heilen: das Kreuz als Lebensbaum, wie die dritte Meditation entfaltet. „Das Kreuz zeichnet dem Schöpfungshorizont einen negativen Realismus ein: das Verletzliche wird verletzt werden, der Stoff des Lebendigen wird verbraucht werden, das frei gewollte Selbst-Bewusstsein wird schuldig werden.“ Gerade in der schonungslosen Offenlegung der „radikalen Unversöhntheit dieser Welt“ liegt schon der Anfang der Erlösung und Rechtfertigung in allem. „Offenbarung“ lautet deshalb das Thema der fünften Meditation, die die abgründige Weltoffenheit des Menschen bedenkt: des Zuspruchs und Anspruchs von woanders her fähig und bedürftig, deshalb auch so verwundbar und verstörungsanfällig. Deshalb der brennende Schmerz der Endlichkeit, deshalb die Sehnsucht und das offene Ende der Geschichte(n), deshalb die unerschöpflichen Möglichkeiten, deshalb die Durchkreuzung aller Erwartungen, deshalb die Ankunft Gottes stets als Heimsuchung, Unterbrechung und Verstörung des Bisherigen. Wie gewagt und prekär, sich derart ins Offene zu begeben und jenem Gegenüber zu trauen, das wir Gott nennen! Welches Abenteuer der Menschwerdung, und welch ein Glück, das mit dem Namen Jesu verbunden zu wissen und seinem Kreuzweg zur Auferweckung.
Man kann Wenzels starke Reflexionen als Entfaltung eines einzigen biblischen Satzes lesen: „Wir sind gerettet, freilich auf Hoffnung hin“ (Röm 8,24) – und von solcher Hoffnung wider alle Hoffnung kann man sinnvoll nur handeln aufgrund einer tragfähigen Zusage und Verheißung. Alle Glaubensaussagen haben den Charakter des Unwahrscheinlichen und Unglaublichen. Die glaubende Orientierung an Jesus und an „seiner Verkündigung einer schöpfungssignierten Lebendigkeit“ führt ein in die förmlich herzzerreißende Spannung zwischen Erinnerung und Erwartung, zwischen „Schon“ und „Noch nicht“. Daran ist das verborgene Wirken jener schöpferischen Großmacht zu erkennen, die man biblisch Heiligen Geist nennt und die das Angesicht der Erde heilend verändern will. Von daher entfaltet Wenzel überzeugend, was christliche Spiritualität ist: Die dankbare Erinnerung an das, was mit Christus begonnen hat, führt gerade nicht zur Ruhigstellung im Bestehenden; sie lässt vielmehr schmerzhaft spüren, was noch fehlt und in „revolutionärer Geduld“ zu verändern ist. Sie macht kritisch gegenüber all den „spirituellen“ Angeboten von gelingender „Identität“, die auf dem Sinnmarkt zu haben sind. Das wirklich spirituelle Selbst ist nämlich berührbar und verletzlich, es schottet sich gerade nicht ab von all dem, was wund ist und zum Himmel schreit. „Der Geist in mir bezeichnet den Nullpunkt meiner selbst; aus welchem ich ständig schöpfe, der selbst so ungeheuer Geist geladen ist.“ Geistlicher Missbrauch ist das genaue Gegenteil: verstörende Selbstherrlichkeit auf Kosten anderer, ja Gottes selbst.
„Keiner Theorie, und sei
sie noch so ausgefuchst,
kann Gott passgerecht
eingefügt werden.“
– Knut Wenzel
Authentische Spiritualität zeigt sich nicht zuletzt an besonderer Sprachsensibilität. Wenzels präzise Formulierungskraft zeigt das beispielhaft. Kein kirchlicher Jargon, kein theologisches Klischee – als würde er jedes Wort eigens abwägen und jeder Wortsequenz eigenes Gewicht geben, immer tastend, einführend! Alle Glaubensaussagen sind ja metaphorisch und paradox, übertragend und hinweisend (ob auch „dialektisch“, wie Wenzel gern formuliert, bliebe zu fragen). „Das Nicht-Beschreibbare ist konstitutiver Bestandteil der Beschreibung.“ Diesem Gestus zugleich negativer wie poetischer Theologie folgend, können Wenzels dichte Texte zugleich Sprachschule sein. Nicht zufällig sind gerade bei diesem Theologen die vielen Bezüge auf moderne Kunst und Literatur.
Wenzels kreuzestheologische Konzentration könnte fast als zu erdenschwer und schier vorösterlich missverstanden werden. Betont sie doch mit Recht das „Noch nicht“ der im Glauben versprochenen Vollendung, und damit natürlich auch die allfällige Reform(ation) von Kirche und Theologie. Umso wichtiger, dass die letzte Meditation mit dem Thema Kirche als „Gemeinschaft selbst-bewusster Glaubenssubjekte“ besonders den Sinn von Liturgie in den Mittelpunkt rückt. „Die Liturgie hat eine himmlische Widmung, aber eine irdische Pragmatik.“ Zumal als Spiel verstanden, ist sie der Raum des Absichtslosen, Zuvorkommenden und Geschenkten: „Vorgeschmack absoluter Kommunikation“ und „Choreographie des Vertrauens angesichts des auch in seiner Präsenz bleibend verborgenen Gottes“. So wird deutlich, was der Sinn und Auftrag von Kirche ist: Inkulturation des Unverfügbaren zu sein auf der Spur Jesu und „seiner Verkündigung einer schöpfungssignierten Lebendigkeit“ und so auch „Gewand des spirituellen Selbst“. „Aus der Feier der Liturgie könnte die Idee einer Selbst-Bestimmung in Selbst-Vergessenheit werden“, heißt es am Schluss. In der Tat: an Gott glauben, gerade im Namen Jesu, und von seiner Freiheit endlich Gebrauch machen (lernen), Theonomie und Autonomie sind dann Gegensatz. Dafür zu arbeiten und zu beten, ist Sinn aller Reform(en). Wie gut , dabei in die Lebenswerkstatt eines Theologen zu gehen, der Vollwertkost anbietet und mitten im Zeitgeschehen ganz bei der Sache ist.