Michael Ende: "Momo"Der Mensch hat seine Zeit

Vor 50 Jahren erschien Michael Endes Märchenroman „Momo“. Zwei Ausstellungen würdigen das Buch und seinen Autor.

Ein Mädchen, eine Schildkröte und tausend Uhren – so illustrierte Michael Ende sein Buch „Momo“. Bis heute verzaubert es junge und alte Leser. (Thienemann-Esslinger Verlag)
Ein Mädchen, eine Schildkröte und tausend Uhren – so illustrierte Michael Ende sein Buch „Momo“. Bis heute verzaubert es junge und alte Leser. (Thienemann-Esslinger Verlag)

„Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“ Sätze wie dieser hallen lange nach. Zu lesen ist er in dem Roman Momo oder – mit vollständigem Titel – Die Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Vor 50 Jahren erschien dieses zeitlose und sprachgewaltige Buch über das Mädchen mit dem wilden, pechschwarzen Lockenkopf und dem zu großen Mantel. Momos enge Freunde sind der wortgewandte Gigi Fremdenführer und der ein wenig wunderliche Beppo Straßenkehrer. In den Ruinen eines Amphitheaters in einem Pinienwald am Rande einer Großstadt lebt sie und besitzt nur das, was ihr gehört, was sie geschenkt bekommt oder was sie am Leib trägt – wie ihren geflickten Rock und den übergroßen Männermantel. Immer läuft sie barfuß umher. Momo hat eine besondere Gabe: Sie kann gut zuhören und nimmt sich dafür Zeit. Ihre Welt gerät ins Wanken, als Scharen von grauen Herren, ganz in „spinnwebfarbenes Grau“ gekleidet, in der Stadt umherstreifen. Jeder von ihnen hatte eine bleigraue Aktentasche bei sich, und sie schreiben „allerlei in ihre Notizbüchlein“. Nur auf eines haben sie es abgesehen, die Lebenszeit der Menschen: „Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie.“ Sie überreden Menschen Lebenszeit einzusparen und diese bei einer „Zeit-Sparkasse“ anzulegen. Generationen von Kindern sind mit der Geschichte von Momo aufgewachsen. Zu ihrem Jubiläum widmen sich Ausstellungen im oberbayerischen Garmisch-Partenkirchen und im nordrhein-westfälischen Oberhausen der berühmten Romanfiguren – und ihrem Schöpfer Michael Ende (1929-1995). Sechs Jahre schrieb Michael Ende an seinem Märchenroman, ein Begriff den er eigens für Momo erfand. Das damals von Ende gezeichnete Bild einer Gesellschaft, die gehetzt und in einer Konsum orientierten Welt lebt, ist heute aktueller als je zuvor. Die Menschen arbeiten in einem Tempo, das weder ihnen noch dem Planeten gut bekommt. Dieser modernen Gesellschaft hält Momo den Spiegel vor. „Sie steht mit ihrem engsten Umfeld in Kontakt, kann so wunderbar zuhören, dass die Menschen gesund davon werden, und sie ist im Einklang mit der Natur und ihrer Lebenswelt“, beschreibt Floriana Seifert. Die Michael-Ende-Expertin betreut das Archiv seines Nachlasses für den Markt Garmisch-Partenkirchen, wo der berühmte Autor 1929 geboren wurde. Gesellschafts- und Fortschrittskritik sind in seinem Roman ebenso zu finden, wie Konsumwahn und Zeitstress. „Momo hat mächtige Freunde, aber ihre größte Kraft liegt in ihr selbst. Michael Ende bietet in Momo keine Patentlösung zur Weltrettung an, sondern er lässt ein kleines Mädchen zur Botschafterin hierfür werden.“ 

Michael Ende fand überall
Inspiration. Alltägliche
Landschaften und Park-
anlagen wurden bei ihm
zu fremden Welten voller
fantastischer Bewohner.

 

Wieder bewusst mit der eigenen Zeit umgehen, das wünschen sich viele. Einem, dem das zu gelingen scheint, ist Beppo Straßenkehrer. Beim Kehren versucht er Stück für Stück zum Ziel zu kommen. „Richten wir uns danach, fühlen wir uns nicht durch Zeit eingeengt, sondern können uns in ihrem Rhythmus frei bewegen, indem wir diesen Rhythmus zu unserem machen“, so die Seifert. Beppo versuche nicht schneller zu sein, das zeichne ihn aus. „Er bleibt in seiner Ruhe, das hat schon geradezu etwas Meditatives.“ Die grauen Herren messen den Menschen hingegen nur noch in Zeit. Geradezu mahnend erscheint hier die Ansicht von Beppo Straßenkehrer, die der Erzähler im Roman so beschreibt: „Nach seiner Meinung kam alles Unglück der Welt von den vielen Lügen, den absichtlichen, aber auch den unabsichtlichen, die nur aus Eile oder Ungenauigkeit entstehen.“ 

 

Mit ihrem selbstlosen Verhalten ist die nachdenkliche Momo ein Gegenpol zu unserem heutigen Leistungsdenken. Gleich einem Plädoyer offenbart der Roman daher die unmenschlichen Seiten der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft. Gleichzeitig ist er ein geradezu philosophischer Appell, unverplante Zeit wieder mehr wertzuschätzen, wenn darin zu lesen ist: „Der Mensch hat seine Zeit. Und nur so lang sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig.“ Laut Endes Biographin, Birgit Dankert, habe der Schriftsteller eine Kinderbuchgestalt geschaffen, die „als mythische Figur, in das Geheimnis der Zeit eindringt, aber auch als emanzipierte Heldin im Kampf gegen Unrecht und Kapital verstanden werden kann“.

 

Seit 1973 wurde das Buch rund zwölf Millionen Mal verkauft und in über 50 Sprachen übersetzt. 1974 erhielt es den Deutschen Jugendliteraturpreis, zwölf Jahre später kam die Verfilmung des Romans in die Kinos. Eine neue ist inzwischen in Planung. Wer denkt, Momo sei ein reines Kinderbuch, irrt. Es wendet sich vielmehr an Leser aller Generationen. Lenkt es doch den Blick auf Achtsamkeit, Freundschaft, Zeit und unseren Umgang damit. Dennoch möchte Ende wie in allen seinen Büchern bei den Lesenden das innere Kind heraus kitzeln. Von der Literaturkritik und dem Feuilleton in Deutschland wurde Endes philosophisches und intellektuelles Werk lange zu Unrecht verkannt und als Eskapismus abqualifiziert. Auslöser für diese Diskussionen war sein Buch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, das 1960 erschien. Durch schwimmende Lokomotiven und sprechende Drachen würden Kinder nicht mit dem wirklichen Leben konfrontiert, lautete ein häufiger Vorwurf. Ende war es schließlich Leid sich für seine Arbeit immer rechtfertigen zu müssen. Selbst sein Freundeskreis ließ ihm keine Ruhe. Also verließ er zusammen mit seiner Frau Anfang der 1970er Deutschland: „Diese Diskussion über den Fluchtcharakter von Literatur war die Ursache für meinen Umzug nach Italien. Das war mein ganz persönlicher Eskapismus.“ Jetzt konnte er schließlich sein Dasein als Dichter und Denker verwirklichen. 

 

Märchen, Romane,
Erzählungen, Gedichte,
Bilderbücher, Theater-
stücke – Michael Ende
wollte sich nie in eine
literarische Schublade
stecken lassen.

 

„Michael Ende war auf der Suche nach einer bewohnbaren Welt“, schrieb Roman Hocke 1997. Der Germanist arbeitete für den K. Thienemann Verlag in Stuttgart fünf Jahre als Lektor mit Michael Ende zusammen und war eng mit ihm befreundet. „Nicht sein Leben in der Außenwelt verleiht Michael Ende seine eigentliche Identität als Schriftsteller, sondern das, was in seiner Innenwelt stattgefunden hat.“ Ende verfasste Märchen, Romane, Erzählungen, Gedichte, Bilderbücher und Theaterstücke. In literaturwissenschaftliche Schubladen lässt er sich mit all seinen Werken definitiv nicht einordnen. Bei ihm treffen Fantasie und Realität in einem poetischen Kosmos aufeinander und eröffnen so neue Sichtweisen auf die Welt. 

 

Ende verstand sich als Geschichtenerzähler, wollte allerdings nie ein reiner Kinderbuch-Autor sein. Ursprünglich wollte er für das Theater schreiben. 1948 begann er eine Ausbildung zum Schauspieler an der renommierten Otto-Falkenberg-Schule. Ende sagte einmal von sich, dass er „kein Spezialist für Kinder“ sei. Trotzdem ist es ihm gelungen, sich mit seinem tiefsinnigen und qualitätsvollen Texten, in die Herzen von Generationen Lesern zu schreiben – und das obwohl er keine kindliche Sprache gebrauchte. Seinen ganz besonderen Sprachduktus entwickelte er mit seiner ersten Frau, der Schauspielerin Ingeborg Hoffmann. „Ein Buch, das es nicht wert ist, von Erwachsenen gelesen zu werden, ist es schon gar nicht wert, von Kindern gelesen zu werden“, meinte Michael Ende einmal. Diesem Ansatz folgt auf beeindruckende Weise auch die tiefsinnige Ausstellung Geh doch zu Momo in Garmisch-Partenkirchen. Noch bis Anfang Februar 2024 ist die an eine gleichlautende Redensart aus dem Buch angelehnte Schau im Museum Werdenfels zu sehen. Endes Roman wird hier für die Besuchenden geradezu fühlbar. Die Leiterin des Museums Constanze Werner hat zusammen mit Ende-Expertin Floriana Seifert die tiefgründige Ausstellung kuratiert. Letztere hat über Ende promoviert und beobachtet, dass die Aktualität der Handlung mit den Jahren immer mehr zugenommen habe: „Momo ist in meinen Augen eine Aufforderung, die Parallelen zwischen der im Buch geschilderten Realität und unserer Lebenswirklichkeit zu reduzieren.“ 

 

So hängen über mehrere Etagen in Flur und Treppenhaus Papierfahnen mit Gedanken und Zitaten aus dem berühmten Roman von der Decke. Geschaffen hat die Installation die Bildhauerin Michaela Johanne Gräper. Angelehnt ist sie an Endes Zettelkästen, denen er 1994 einen ganzen Band gewidmet hat. In ihnen sammelte er kleine Zettel und Blätter auf denen er seine Gedanken notierte. Manche notierte er handschriftlich, manches auf seiner Schreibmaschine, die auch in der Ausstellung zu sehen ist. In seinem Archiv stapelte sich Papier über Papier. Zu einem späteren Zeitpunkt holte er seine Notizen wieder hervor und dachte sie weiter. „Die Arbeit mit dem Zettelkasten war ein meditativer Prozess“, erklärt Constanze Werner. Psychologisch sei sie als „Gang in das Ich“ zu verstehen. Den Prozess des Schreibens und seiner Ideenfindung verglich Ende einmal mit einem Kandiszucker: „In eine warme übersättigte Zuckerlösung hängt man Fäden; beim Abkühlen kristallisiert der Zucker an den Fäden aus.“ Bei Momo war für Ende der Faden in der Zuckerlösung eine kaputte Taschenuhr ohne Zeiger. Sechs Jahre sollten dann aber noch vergehen, bis das Buch vollendet war. Momo war ursprünglich ein Auftragswerk eines Fernsehsenders. Doch das Manuskript wurde abgelehnt. Jene, die das entschieden, ahnten wohl kaum, dass es Jahrzehnte später Ausstellungen zu dem kleinen Mädchen und den Zeitdieben geben würde. 

 

In einer Videoinstallation von Gene Aicher verwandelt sich ein Schildkrötenpanzer in kleine Videos. „Außenbilder, die Ende wahrgenommen hat, wurden zu Innenbildern und diese wurden wieder extrahiert“, so Floriana Seifert. Die Bilder verweisen auf unsere gegenwärtige Gesellschaft, darunter eine Langzeitaufzeichnung in Zeitraffer einer Berliner Straßenkreuzung mit gehetzten Menschen. Ein völliger Kontrast dazu ist eine grün-braune Schildkröte. In gemütlichem Tempo kriecht sie als Animation über den Museumsboden. Angelehnt ist das Kunstwerk an Kassiopeia. Für Momo wird die Schildkröte zu einer wichtigen Freundin. Sie spricht nicht, kommuniziert aber durch Schriftzeichen auf ihrem Panzer. Kassiopeia bringt Momo zum Verwalter der Zeit. Zusammen gelingt es ihnen die grauen Herren zu besiegen. „Michael Ende mochte die Schildkröte wegen ihrer Langsamkeit“, erklärt Werner. Davon zeugt auch Endes private Sammlung an Schildkröten-Figuren, die in der Sonderausstellung zu sehen ist. Ende schätzte die Tiere so sehr, dass er sie nicht nur als Haustiere hielt, sondern auch regelmäßig in seinen Büchern verewigte: Ob als uralte Morla in der „Unendlichen Gesichte“ oder als „Tranquilla Trampeltreu“ in einer gleichnamigen Fabel. Eine Schildkröte mit großen Augen ist auch Sympathieträgerin der Momo-Inszenierung des Düsseldorfer Marionettentheaters. Golden schillert hier Kassiopeias Panzer und im Gegensatz zum Buch spricht sie sogar ein paar Worte. Seit 2002 wird das Stück immer wieder aufgeführt. 

 

Auch in der in der jüngst eröffneten Ausstellung Fantastische Reise mit Jim Knopf, Bastian und Momo. Michael Ende – Bilder und Geschichten der Ludwiggalerie in Schloss Oberhausen werden Marionetten gezeigt. Momo und Kassiopeia fehlen allerdings, weil sie im Oktober noch auf der Bühne standen. Bis 14. Januar 2024 widmet sich die Sonderausstellung jenen Bildern, mit denen Zeichner und Illustratoren Endes literarische Welt lebendig machen. Zu sehen sind 645 Einzelbilder, aber auch originale Buchausgaben. Sie erzählen von den fantastischen Geschichten und ihrer Entstehung. „Es ist die erste große Ausstellung überhaupt über Illustrationen zu Michael Endes Werken“, beschreibt die Direktorin der Ludwiggalerie Christine Vogt. In der Schau wird deutlich, wie eng Ende mit Zeichnern zusammenarbeitete. Mehrmals wurden Endes Bücher neu illustriert – so auch Momo. Die Erstausgabe zeichnete Ende selber. Die Landschaften, malerischen Parkanlagen und historischen Bauten seiner neuen Heimat in der Nähe von Rom inspirierten ihn. „Ende hat Momo kein Gesicht gegeben“, so die Kunsthistorikerin. „Die Leser sollen ihre Fantasie in Kraft setzen und sich selbst ihre Bilder im Kopf machen.“

 

Endes Arbeitsweise entsprach der eines Malers. „Das fantastische Gedankengut liegt in der Familie“, sagt Christine Vogt. So beziehen die beiden Ausstellungen in Oberhausen und Garmisch-Partenkirchen auch bewusst Endes Vater Edgar (1901-1965) und dessen beeindruckende Gemälde mit ein. Der surrealistische Maler zog seine Inspiration aus so genannten „Dunkelkammer-Bildern“. Bereits ab den 1920ern entwickelte er eine meditative Methode zur Findung seiner Bildideen. Dafür setzte sich Edgar Ende immer wieder in ein dunkles Zimmer. Er wartete bis die fantastischen Bilder aus ihm herauskamen. Für seine zeichnerischen Notizen hatte er eigens einen Bleistift mit einer Lampe daran entwickelt. „Er wollte den Kopf von den Alltagsdingen entleeren.“ 

 

Die zeichnerischen Notizen des Vaters erinnern ein wenig an den späteren Zettelkasten des Sohnes. Die Bilder und Zeichnungen prägen den Jungen von frühester Kindheit und schließlich auch die Werke des Autors. Was der eine bildlich darstellte, versuchte der andere sprachlich umzusetzen. Michael Ende erinnerte sich später: „Wir haben sehr viel und sehr gerne miteinander auch über esoterische Dinge oder über Religion und ähnliche Fragen gesprochen.“ Seinen 20-jährigen Sohn hielt der Vater 1950 in einem beeindruckenden Porträt fest. Zu sehen ist es aktuell im Gewölbekeller in Garmisch. Auf dem Gemälde hält Michael Ende in seiner linken Hand eine Kugel. Sie erinnert an eine Weltkugel. In der rechten Hand hält er einen roten Stift. In roter Schrift ist in Altgriechisch ein Vers aus dem Lukas- Evangelium auf der Weltkugel zu lesen: „Gedenke meiner am Tage deiner Glorie.“ Ein Leben lang sorgte sich Michael Ende um die Gefährdung des Planeten. Bei den Friedensmärschen der 1980er gegen die atomare Aufrüstung trugen viele das Buch Momo unter dem Arm. „Michael Ende war wahnsinnig interessiert, wie man das Leben betrachten könnte“, erklärt Floriana Seifert. „Er war ein Suchender nach Antworten.“ Auf seiner Suche lebte Ende gemächlich – entschleunigt. Ein Wort das es zu seinen Lebzeiten noch nicht gab. Es hätte ihm aber sicherlich gefallen. 


 

„Geh doch zu Momo – Michael Ende und sein Märchenroman“ ist bis zum 7. Februar 2024 im Museum Werdenfels in Garmisch-Partenkirchen zu sehen. Öffnungszeiten: Di bis So, 10 - 17 Uhr, Eintritt: 4,50 € 

 

„Fantastische Reise mit Jim Knopf, Bastian und Momo. Michael Ende – Bilder und Geschichten“ ist bis zum 14. Januar 2024 in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zu sehen. Öffnungszeiten: Di bis So, 11 - 18 Uhr, Eintritt: 8 € 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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