Für viele Beobachter der katholischen Kirche wirkt sie mit ihrem Mindset wie aus der Zeit gefallen“, schreibt der Münstereaner Kirchenrechtler Thomas Schüller zu Beginn seines jüngst erschienenen Buchs. Dessen Titel Unheilige Allianz. Warum sich Staat und Kirche trennen müssen dürfte viele kirchlich engagierte Leserinnen und Leser zumindest irritieren. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine Streitschrift, die sich die Forderungen jener zu eigen macht, die in den Kirchen, ja in Religion überhaupt ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten sehen. Dass manches an den Kirchen und insbesondere in der katholischen Kirche wie „aus der Zeit gefallen“ wirkt, wird wohl kaum jemand bestreiten – die Frage ist jedoch, ob dies nicht auch eine Stärke sein kann. Denn wer sich mit dem Zustand der gegenwärtigen Welt nicht abfinden will und kann, braucht sicherlich gebührenden, und das heißt: kritischen Abstand zu dieser Gegenwart. Der lässt sich jedoch – so die These Schüllers – kaum einhalten, wenn die Kirche gleichzeitig über zahlreiche Privilegien, von denen das Kirchensteuerrecht nur eines ist, aufs engste mit dem säkularen Staat verbunden ist.
Schüller weist auf die in diesem Zusammenhang oftmals zitierte These des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde hin, der zufolge der säkulare Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren kann – hier liege womöglich der Schlüssel für eine Selbstbesinnung der Kirche im Sinne einer Selbstbestimmung ihres Auftrags inmitten einer säkular ausgerichteten Gesellschaft. Um indes zu verhindern, dass diese 1964 zum ersten Mal geäußerte These im Sinne eines Freibriefs für die privilegierte Stellung der christlichen Kirchen in der Bundesrepublik missverstanden wird, revidierte Böckenförde sie später: Diese These bedeute gerade nicht, dass die Kirchen sich selbstgefällig als eine Art Sinnstifter de luxe ansehen sollten. Dass sie diese Funktion – wenn sie sie denn je hatten – längst verloren haben, zeigt Thomas Schüller an mehreren Beispielen und plädiert unmissverständlich für eine Klärung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat.
Klar sei dieses Verhältnis ja keineswegs, da es eine Vielzahl kirchlicher Interessen gebe, die bei Bedarf kirchlicherseits gerne gegeneinander ausgespielt werden: Die Kirchen verstehen sich als Anwalt der Schwachen, ja, aber sie verfolgen zum Beispiel im Eherecht Interessen ihrer Moralvorstellungen, in Fragen der Staatsleistungen fiskalische Interessen und beispielsweise beim Arbeitsrecht besitzstandswahrende Interessen. „Der Erfolg kirchlicher Interessenvertretung beruht darauf, dass zwischen diesen Feldern hin- und hergesprungen wird und entsprechende ‚Deals‘ abgeschlossen werden“, schreibt Schüller und meint damit, dass der Staat im Wissen darum, auf die Arbeit der großen ‚Sozialkonzerne‘ Caritas und Diakonie angewiesen zu sein, beispielsweise im Arbeitsrecht Zugeständnisse machte, die nur schwer mit dem Grundgesetz und hinsichtlich des katholischen Frauenbildes nicht mit den allgemeinen Menschenrechten zu vereinbaren sind.
Formulierungen wie die von den „Sozialkonzernen“ mögen manche Leserin und manchen Leser irritieren – und das ist vermutlich durchaus gewollt: Thomas Schüller zeigt, dass das in der Bevölkerung im Gegensatz zur Amtskirche angesehene soziale Engagement dieser Institutionen von eben jener Amtskirche genutzt wird, um ihre gesellschaftliche Bedeutung zu unterstreichen und gewisse dunkle Machenschaften in den Hintergrund treten zu lassen. Gemeint ist natürlich der Skandal des sexuellen Missbrauchs – der auch deshalb skandalös ist, weil es immer noch viele Amtsträger gibt, die meinen, es handele sich dabei um ein innerkirchliches Problem, das innerkirchlich zu lösen sei. Diese Haltung lasse auf ein gestörtes Verhältnis zum säkularen Rechtsstaat schließen: Wer grundrechtsberechtigt sei, müsse auch grundrechtsverpflichtet werden können, stellt der Kirchenrechtler lakonisch fest.
„Können es die Bundesländer noch zulassen, dass die katholische Kirche mit wissenschaftsfremden Kriterien in Berufungsverfahren eingreifen kann?“
Den Zusammenhang von rechtlicher Beanspruchung und kirchlicher Umsetzung zeigt Schüller in verschiedenen Bereichen, in denen es – wie jüngst im Arbeitsrecht geschehen – zu Klärungen kommen müsse. Indem die Deutsche Bischofskonferenz in der überarbeiteten Grundordnung zum kirchlichen Arbeitsrecht feststellte, dass „der Kernbereich privater Lebensgestaltung keinen rechtlichen Bewertungen unterliegt und sich dem Zugriff des Dienstgebers entzieht“, hat sie einen wichtigen Schritt getan – aber eben nur einen von vielen, die noch vonnöten sind.
Einen besonderen Fall des kirchlichen Arbeitsrechts und der mit ihm verbundenen Abhängigkeiten beschreibt Schüller unter der Überschrift „Frank und frei: Universitäre Theologie zwischen staatlicher Freiheit und kirchlicher Gängelung“. Dort stellt er die pointierte Frage: „Können es die Bundesländer auch im Blick auf die in nationales Recht überführten europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien eigentlich noch länger zulassen, dass beispielsweise die katholische Kirche mit wissenschaftsfremden Kriterien massiv in Berufungsverfahren eingreifen kann?“ Schüller nennt neben vielen anderen den Fall der Tübinger Ethikerin Regina Ammicht, der trotz mehrerer Rufe auf Lehrstühle das Nihil obstat, also die kirchliche Zustimmung, verweigert wurde – weil sie
ihre Habilitation über das Thema „Körper, Religion und Sexualität“ verfasst hatte. Oder die Affäre um den Neutestamentler Ansgar Wucherpfennig, dessen Wiederwahl zum Rektor der Jesuiten-Hochschule Sankt Georgen fast verhindert worden wäre, weil er die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare begrüßt hatte. Eine derart von der Amtskirche gegängelte und in ihrer Freiheit beschnittene Theologie, welche die Steuerzahler finanzieren, sei Letzteren nicht mehr zu vermitteln, so Schüller. Vor allem aber schade der wissenschaftsferne Eingriff in die Theologie deren Reputation und Glaubwürdigkeit in der säkularen Öffentlichkeit.
Thomas Schüller geht es nicht darum, einer Trennung nach dem Vorbild des französischen Laizismus das Wort zu reden, weshalb er auf eine genauere Analyse dieses Modells verzichtet. Dabei könnte ein etwas ausführlicherer Blick über die deutsch-französische Grenze durchaus zeigen, dass das laizistische Modell weder so vorteilhaft für die Säkulargesellschaft ist, wie es sich manche Kritiker der engen Verzahnung von Kirchen und Staat vorstellen, noch mit so vielen Nachteilen verbunden ist, wie kirchennahe Kreise befürchten. Schüller geht es um die Äquidistanz des Staates zu allen Religionsgemeinschaften – in ihr liege auch und gerade für die christlichen Kirchen eine Chance. Statt vor allem Betreiber von Sozialkonzernen zu sein, könnten sie zu Identifikationsorten werden, die sich auf eines ihrer Kerninteresse konzentrieren: Anwalt der Schwachen zu sein in einer Gesellschaft, die diesen immer weniger Raum und Stimme lässt.
Menschen, die – wie Jürgen Habermas es einmal ausgedrückt hat – „religiös unmusikalisch“ sind, werden dieses Buch mit großem Gewinn lesen, denn es versachlicht eine oftmals emotional geführte Debatte. Aber auch Menschen mit kirchlicher Bindung werden durch Unheilige Allianz interessante Einsichten bekommen. Etwa diejenige, dass beide Volkskirchen vor einer falschen Alternative stehen: Einerseits gibt es – wie Schüller es nennt – die Fundamentalismusfalle des verbleibenden heiligen Rests, und andererseits die Relevanzfalle, in die diejenigen tappten, die sich ständig einer zunehmend säkularen Gesellschaft als unabdingbar andienen.
Thomas Schüllers Buch ist ein Appell an die religiös Musikalischen, hier einen dritten Weg zu suchen. Der bestünde in der Tat darin, zu zeigen, dass eine zunehmend säkulare und religiös diverse Gesellschaft einen Zusammenhalt braucht, den sie selbst nicht garantieren kann – allerdings braucht sie keine Großorganisationen mehr, die sich vor allem mit sich selbst, das heißt mit ihren Interessen, ihrer Relevanz und ihrem Ansehen beschäftigen.
THOMAS SCHÜLLER
UNHEILIGE ALLIANZ
Warum sich Staat und Kirche trennen müssen
Carl Hanser Verlag, München 2023, 208 Seiten, 22 €