Nachlass von Etty Hillesum„Den Liebesvorrat auf dieser Erde vergrößern“

Innerste Freiheit in allem Leid – vor 80 Jahren wurde Etty Hillesum ermordet. Jetzt liegt ihr gesamter Nachlass auf Deutsch vor.

Ach, weißt du, wenn man nicht etwas sehr Starkes in sich hat, das all das Äußerliche einfach als malerische Äußerlichkeiten betrachtet, dann ist die Lage hier eigentlich verzweifelt.“ So schreibt die bald 30-jährige Niederländerin jüdischer Herkunft an ihre Freundin in einem ihrer letzten Briefe aus dem Durchgangslager Westerbork vor ihrem Abtransport ins Vernichtungslager. Inmitten größter Verzweiflung deutet sie an, dass sie von woanders her lebt und deshalb voller Zuversicht standhält. Es fällt sogar das zentrale biblische Wort „Herrlichkeit“, und das mitten im größten Unrecht und Elend. Gerade wenn man selbst absolut nichts mehr tun kann, drängt eine Wahrheit ans Licht, die unbedingt tröstet und trägt. Dafür steht in erstaunlicher Weise Esther Hillesum.

Durch die bewährte Kurzausgabe ihres Tagebuchs Das Herz der Baracke ist sie schon vielen bekannt. Dass nun endlich die Gesamtausgabe von Tagebuch und Briefnachlass auf Deutsch erschienen ist, zudem neu übersetzt und mit einem hervorragenden Register versehen, wirft mit dem Selbstzitat im Titel aber ein viel genaueres Licht auf diese faszinierende Frau. Ich will die Chronistin dieser Zeit sein, schrieb sie. Und wie sie das wurde! Jetzt im November, wahrscheinlich am 30., wurde sie in Auschwitz ermordet, vor 80 Jahren.

Wie so viele Tagebücher ist auch dieses aus der Not geboren: Die 27-Jährige, wissbegierig und lebenshungrig, hat gerade ihr Jurastudium abgeschlossen und kann bereits auf ein ziemlich wildes Leben zurückblicken. Nun will sie slawische Sprachen und Psychologie studieren, gerät aber in eine Lebenskrise. Die Begegnung mit dem charismatischen Therapeuten Julius Spier, einem aus Berlin emigrierten Juden der C.G. Jung-Schule, wird für sie zur Geburtsstunde eines neuen Lebens. Sein Rat, Tagebuch zu schreiben, trifft ins Schwarze – nicht nur zur Selbstklärung, sondern auch zur Berufsfindung. Schriftstellerin will sie werden, und sie hat das Zeug dazu.

Es wäre lohnend, ihr Tagebuch in vielerlei Hinsicht zu lesen: literarisch (zumal mit ihrer Lektüre des geliebten Rilke, Tolstoi, Dostojewski etc.); psychologisch als Reifungsgeschichte (heraus aus der Herkunftsfamilie, mit allen pubertären Beziehungsnöten und dann mit den durchaus problematischen Behandlungsmethoden ihres Therapeuten); natürlich historisch-politisch mit allen Aspekten der Nazi-Herrschaft und Judenverfolgung; nicht zuletzt auch als Dokument jüdischer Selbstreflexion. Und nicht zu vergessen feministisch als intimes Dokument weiblicher Selbstbestimmung (mit Beachtung des eigenen Körpers, mit aller Not und Lust von Beziehungen). „Vielleicht muss die richtige, die innere Frauenemanzipation erst noch beginnen. Wir sind noch keine richtigen Menschen, wir sind Weibchen“, notiert sie, acht Jahre vor Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht.

Bei all diesen Lesarten käme man immer wieder auf den geheimnisvollen Punkt zurück, dass und wie da ein junger Mensch sozusagen im Zeitraffer erwachsen wird. Sie kommt zu der festen Überzeugung, „dass einem das Letzte im Innern nicht genommen werden kann“ – und handelt entsprechend. „Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein“, lautet bezeichnenderweise ihr letzter Tagebucheintrag.

Im Folgenden soll es ausschließlich um jene innerste Mitte von Hillesums Lebenswerk gehen, die sie zu Lebzeiten vor ihren Freundinnen und Freunden verbarg, die aber religiös empfängliche Leserinnen und Leser nicht gleichgültig lassen kann: ihr Leben mit Gott. Von zu Hause hat sie wenig Religiöses mitbekommen, von Kirche und Theologie hat sie keine Ahnung. Erst in der Begegnung mit ihrem Therapeuten lernt sie Augustinus lesen, auch Meister Eckhart, C.G. Jung natürlich und vor allem die Bibel.

Aber das Entscheidende kommt aus ihr selbst: Sie entdeckt (ihren) Gott. Das Tagebuch wird zum Gebetbuch, das Leben zum ständigen Zwiegespräch mit Gott. Wenn der Naziterror vorbei ist, will sie ihre Geschichte aufschreiben: Von dem Mädchen, das nicht knien konnte, überlegt sie als Titel. Oder als Variante: Von dem Mädchen, das Beten lernte. „Es ist meine intimste Gebärde, intimer als jede Gebärde mit einem Mann“. Berührt darf man an einem großen Wachstumsprozess teilnehmen, der zu innerer Freiheit und unbedingter Liebesbereitschaft führt. Etty kommt zur Überzeugung, „dass uns das Letzte in uns selbst nicht genommen werden kann“. So kann sie sich bis zuletzt für andere einsetzen.

„In mir drin ist ein sehr tiefer Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich nicht erreichbar. Aber öfter liegen Steine und Schutt auf diesem Brunnen, dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden.“ So notiert sie zu Beginn ihres Tagesbuchs. Gegen Ende ist daraus eine tiefe, alles prägende Gewissheit geworden: „Ich ruhe in mir selbst. Und dieses Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir, in dem ich ruhe, nenne ich ,Gott‘.“ Man wird bei dieser „natürliche(n) Neigung zu einem grenzenlosen Gottvertrauen“ an Meister Eckharts Seelenfünklein denken können und an andere aus dem Strom biblischer Mystik.

Gewiss kann der Verdacht aufkommen, dass es sich bei alldem vielleicht um übertriebenen Narzissmus oder gar eine Wunschprojektion handelt. Wäre da nicht der Faktencheck durch das konkrete Leben! Denn Etty Hillesum flieht nicht aus ihrem Alltag in dieser schrecklichen Nazizeit, sie stellt sich ihm – etwa in ihrer ausdrücklichen Weigerung, die deutschen Besatzungssoldaten zu hassen oder sich dem Widerstand anzuschließen. Sie ist die Hilfsbereitschaft in Person, geht im Auftrag des Amsterdamer Judenrats ins Durchgangslager und hilft, wo sie kann – auch später, als sie selbst Häftling wird. Niemanden zu hassen und „den Liebesvorrat auf dieser Erde zu vergrößern“ – dieses eine Ziel bedeutet auch Leiden und Mitleiden. „Ich danke dir, dass du mich so leidensfähig gemacht hast“, betet und schreibt sie. Fast möchte man von Leidensmystik sprechen, von Compassion wie bei Edith Stein, deren Weg ebenfalls nach Auschwitz führte. Typisch Ettys Notiz: „Zum Erniedrigen braucht es immer zwei. Einen, der erniedrigt, und einen, der sich erniedrigen lässt. Wenn letzterer fehlt, dann ist die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann lösen sich die Erniedrigungen in Luft auf.“ Diese innerste Freiheit trotz und in allem Leid hat Etty offenbar bis zuletzt geprägt und noch in Phasen wirklicher Verzweiflung mit umwerfender Zuversicht beschenkt (soweit wir das aus den Quellen erahnen können). Man lese nur die letzte Postkarte, die sie noch aus dem fahrenden Zug nach Auschwitz warf! „Der Herr ist meine hohe Zuflucht. Ich sitze mitten in einem vollen Güterwagen auf meinem Rucksack.“

„Eigentlich ist mein Leben ein unablässiges ,Hineinhorchen‘ in mich selbst, in andere, in Gott. Und wenn ich sage, dass ich ,hineinhorche‘, dann ist es eigentlich Gott, der in mich ,hineinhorcht‘.“ Treffender kann man den Glutkern des biblischen Gottesglaubens und der ihm entsprechenden Mystik nicht auf den Punkt bringen. Die Pointe ist die Wechselseitigkeit der Beziehung. Entsprechend entdeckt auch Etty Hillesum – zeitgleich mit Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Simone Weil – den bedürftigen, den suchenden, den armen und ohnmächtigen Gott: „Es sind beängstigende Zeiten, mein Gott. Aber eines wird mir immer klarer: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns selbst. Und vielleicht können wir auch mithelfen, dich in den geplagten Herzen anderer zu Tage zu fördern.“ Etty Hillesum, die „Lehrjahre“ hinter sich, übernimmt Verantwortung für Gott und seine Sache. Sie begreift den grundlegenden Zusammenhang zwischen Gottes- und Nächsten-, ja Feindesliebe. Dabei fragt sie durchaus selbstkritisch: „Ist es nicht fast gottlos, in einer Zeit wie dieser noch sehr an Gott zu glauben? Und ist es nicht leichtsinnig, das Leben noch schön zu finden?“ Nein: Gerade jetzt, so ihre Antwort, ist die Verantwortung vor Gott und für Gott das Entscheidende. Nicht mit Warum-Fragen sich zu quälen und zu grübeln: „Ich ziehe dich auch nicht zur Rechenschaft, du kannst uns später zur Rechenschaft ziehen!“

Das Tagebuch und nicht minder die späteren Briefe sind ein großes Dokument der Mitmenschlichkeit in dunkler Zeit, ein Zeugnis tiefer mystischer Frömmigkeit – und ein verpflichtendes Vermächtnis. „Ich bin noch lange nicht fertig mit dir, mein Gott, und mit dieser Welt“, schreibt Hillesum am 19. Juli 1942. Wenige Tage zuvor stehen Sätze, die sich fast wörtlich auch bei Bonhoeffer und anderen finden: „Wir müssen alle unsere großen Worte wieder vergessen, beginnend bei Gott und endend mit dem Tod, und wir müssen wieder so einfach werden wie reines Quellwasser.“ Christlich wird man sicher nach der Bedeutung Jesu fragen, der im Tagebuch mit Namen fast gar nicht vorkommt. Doch entscheidend sind in jedem Fall Leben und Engagement: „So könnte ich stundenlang sitzen, ich weiß um alles und kann auch alles tragen und werde im Tragen immer stärker, und zugleich ist da die Gewissheit: Ich finde das Leben so schön, so lebenswert und sinnvoll, trotz allem – und irgendwo ist in dir etwas, das dich nie mehr verlassen wird“. CICIG

Etty Hillesum

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Hillesum, Etty

ICH WILL DIE CHRONISTIN DIESER ZEIT WERDENSämtl. Tagebücher und Briefe 1941–1943

C. H. Beck, München 2023, 989 Seiten, 42 €