75 Jahre MenschenrechtserklärungEin Grund zum Feiern?

Trotz aller Verstöße und Vorläufigkeiten: Die Dynamik der Menschenrechte ist nicht mehr aufzuhalten – in Kirche und Welt.

Als wir vor einigen Wochen in der Würzburger Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) die Idee entwickelten, gemeinsam mit Studierenden ein Projekt zum 75. Jahrestag der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu starten, ahnten wir noch nicht, welche Dynamik sich daraus entwickeln würde.

Angefangen hatte es mit der Einladung an unsere Arbeitskreise, den Wortlaut der Menschenrechtserklärung im öffentlichen Bereich unseres Gemeindezentrums sichtbar zu machen. Seit wenigen Tagen hängen nun alle einzelnen Artikel handgeschrieben auf Transparenten und Schildern oder auf spiegelnder Fensterfolie im Eingangsbereich. Was auf den ersten Blick wie eine nette kreative Aktion aussieht, stellte sich in der Umsetzung alles andere als harmlos dar.

Eine der ersten studentischen Initiativen, die ihre Arbeit direkt neben unserem Kapelleneingang aufgehängt hat, war die „Seebrücke“. Der Würzburger Ableger der gleichnamigen internationalen Bewegung solidarisiert sich mit Menschen auf der Flucht und fordert von der deutschen und europäischen Politik umgehend sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme von Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind. Die Initiative hatte sich dafür entschieden, den Wortlaut des Artikels 14, in dem das Recht auf Asyl festgeschrieben ist, zu gestalten. Und schon standen wir vor der ersten Herausforderung. Die Mitglieder der Gruppe erzählten uns davon, dass sie bei der Gestaltung des Menschenrechtsartikels mit den Formulierungen gehadert hätten. Am Ende hatten sie sich darauf geeinigt, nur den ersten Teil des Artikels 14 sichtbar zu machen: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen“. Den zweiten Teil, in dem das Asylrecht mit einer Einschränkung versehen ist, hatten die Studierenden weggelassen. Dort ist davon die Rede, dass das Recht auf Asyl nicht in Anspruch genommen werden könne, wenn eine Person „aufgrund von Verbrechen nichtpolitischer Art oder aufgrund von Handlungen, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen“, strafrechtlich verfolgt werde.

Die „Seebrücke“ begründete ihre Entscheidung mit den von rechten Diskursen bestimmten Verschärfungen der Asylgesetzgebung. Der Anspruch von Menschen auf der Flucht, Asyl genießen zu dürfen, werde immer weiter eingeschränkt. Debatten um die Abschiebung von straffällig gewordenen Personen würden dazu genutzt, grundsätzlich Stimmung gegen Geflüchtete zu machen. Zudem seien die Voraussetzungen, unter denen solche Abschiebungen passierten, mehr als umstritten.

Wir respektierten die Entscheidung der Gruppe, hängten Artikel 14 in der gekürzten Fassung auf und suchten einen Weg, um diese bewusste Kürzung sichtbar zu machen. So standen wir ganz am Anfang unserer Aktion schon mitten in einer alten Diskussion um die Formulierung des Asylrechtsartikels, den der Philosoph Heiner Bielefeldt, langjähriger Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte, für den schwächsten Artikel der Erklärung hält. Denn kein anderes Menschenrecht, so Bielefeldt, sei so unzureichend in verbindliches Völkerrecht umgesetzt worden wie das Recht auf Asyl.

Prominenter als unsere „Seebrücke“ hatte dies bereits Hannah Arendt kurz nach der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte angeprangert. Die Resolution war gerade einmal drei Jahre alt, da stellte ihr Arendt ein schlechtes Zeugnis aus. In ihrem 1951 erschienenen Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bezog sie sich vor allem auf Artikel 14, den sie für eine regelrechte Lebenslüge hielt: „Keine Paradoxie zeitgenössischer Politik ist von einer bittereren Ironie erfüllt als die Diskrepanz zwischen den Bemühungen wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, derer sich nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen, und der Situation der Entrechteten selbst, die sich ebenso beharrlich verschlechtert hat, bis das Internierungslager zur Routinelösung des Aufenthaltsproblems der ,displaced persons‘ (Menschen, die ihren Herkunftsort verlassen müssen; d. Red.) geworden ist.“

Hannah Arendts Kritik, die aus ihren persönlichen Fluchterfahrungen erwachsen war, hat angesichts der weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen nichts an Aktualität verloren. Die faktische Rechtlosigkeit von Menschen auf der Flucht wird nirgendwo grausamer sichtbar als auf dem Mittelmeer, wo allein in diesem Jahr Schätzungen zufolge etwa 2300 Menschen ertrunken sind. Innerhalb der letzten zehn Jahre haben mehr als 28000 Menschen auf der Fluchtroute über das Mittelmeer ihr Leben verloren – mitten in Europa. Dass Menschen zum Spielball einer europäischen Abschottungspolitik werden, liegt nicht zuletzt an der Schwäche des Artikels 14, die Heiner Bielefeldt 2020 in einem Interview mit dem rbb auf den Punkt brachte: „Wenn man sich das anschaut, was die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zum Asylrecht sagt: Da muss man leider feststellen: Es ist ein schlechter Witz: Menschen haben das Recht, Asyl zu ,suchen‘, und sie haben das Recht, Asyl zu ,genießen‘. Aber genau der entscheidende Punkt, nämlich der Übergang – reinzukommen –, fällt schlicht raus aus dieser Formulierung.“ Es gibt in der EU für Flüchtende faktisch nur den illegalen Grenzübertritt. Die geltenden Gesetze erklären Menschen auf der Flucht quasi zu Rechtlosen, die sich bereits durch ihre Existenz strafbar machen.

Hannah Arendt hat diese Schwachstelle in der Menschenrechtserklärung schonungslos entlarvt. Sie selbst gehörte zu den vielen Menschen, die zwar zunächst der Shoa entkommen waren, aber, aller bürgerlichen Rechte beraubt, als „Staatenlose“ schutzlos umherirrten. Diese Erfahrung bildete den Hintergrund für Arendts Position, dass es eigentlich nur ein einziges wirkliches Menschenrecht gebe: „das Recht, Rechte zu haben“. Menschen, die ihre Heimat verloren haben, sollten unabhängig von einer Staatszugehörigkeit einen einklagbaren Rechtsanspruch erhalten, der sich allein auf ihr Menschsein gründet, nicht auf ihre Staatsbürgerschaft. Ausgerechnet bei Artikel 14 ist es nicht gelungen, die politische Willenserklärung vom 10. Dezember 1948 in verbindliches Recht zu transformieren. Aus Sicht von Heiner Bielefeldt ist dies „ein Stück Augenwischerei, ja geradezu Betrug“ in der von ihm sonst so geschätzten Menschenrechtserklärung. Grund genug, diesen Text, mit dem Menschen auf der Flucht gerade heute so bitter im Stich gelassen werden, auch in der Gestaltung der Menschenrechtsartikel in der Hochschulgemeinde nur unvollständig und brüchig darzustellen.

An anderer Stelle fällt das Urteil über die Wirkungsgeschichte der Menschenrechtserklärung deutlich positiver aus. Dass internationale Menschenrechte praktische Folgen haben können, lässt sich exemplarisch an der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigen. Sie hat die Inklusionspolitik in vielen Ländern der Welt – auch in Deutschland – auf eine ganz neue Grundlage gestellt. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom „Donnerstags-Treff“ in unserer Hochschulgemeinde gestaltet wurde. Das ist einer der Arbeitskreise, in dem Studierende ihre Freizeit mit Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung verbringen. Seit Anfang Dezember hängt nun also über dem Eingang zum KHG-Gelände ein Banner, auf das Mitglieder dieses Arbeitskreises in großen Buchstaben den ersten Menschenrechtsartikel aufgemalt haben: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Als vor mehr als 50 Jahren der Vorläufer des heutigen Arbeitskreises in der damaligen KHG gegründet wurde, war dies ein heftig diskutiertes politisches Statement. Zu einer Zeit, in der Menschen mit Behinderung eher verwahrt und im besten Fall „betreut“ wurden, gründeten die Studierenden diese Gruppe, in der Menschen mit und ohne Behinderung „auf Augenhöhe“ ihre Freizeit miteinander verbrachten. Sie wollten schon damals ernst machen mit dem, was in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als hehres Ziel formuliert ist und 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ beschlossen wurde: „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“ (Artikel 1 der UN-Behindertenrechtskonvention).

Unstrittig ist: Die UN-Behindertenrechtskonvention ist das erste universelle Rechtsinstrument, das bestehende Menschenrechte bezogen auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung konkretisiert. Und selbst an dieser Stelle, an der die Menschenrechte klare rechtsverbindliche Auswirkungen entfaltet haben, ist der Weg zu einer Verwirklichung der vollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für viele Menschen, die mit einer Behinderung leben, noch mit Hindernissen versehen. Ausgerechnet der Arbeitskreis, der Artikel 1 gestaltet hat, kämpft gemeinsam mit den Teilnehmenden, die für den Weg zu den abendlichen Treffen auf einen Fahrdienst angewiesen sind, seit mehr als einem Jahr gegen scheinbar unüberwindliche Barrieren. Denn im Stadtgebiet von Würzburg gibt es keine abendlichen Fahrdienste mehr für Menschen, die mit einem Rollstuhl unterwegs sind. Menschenrechte zeigen genau dort ihre Wirkung, wo sie alltäglich und konkret werden. In dieser Hinsicht ist dem „Donnerstagstreff“ gerade nicht nach Feiern zumute. Gleichzeitig geben die Mitglieder nicht klein bei. So wirken ihre großen Buchstaben auf dem Banner über dem Eingang zur KHG wie ein widerständiges Bekenntnis.

Und auch beim Anbringen eines weiteren großen Transparents, auf dem in bunten Lettern Artikel 3 zu lesen ist, begleiteten uns gemischte Gefühle: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Sofort steht die Frage im Raum: Können wir in einer Einrichtung der katholischen Kirche gerade diesen Artikel in so fröhlichen Farben wie ein freundliches Begrüßungstransparent aufhängen? Die systemische Ermöglichung und die Vertuschung von Missbrauchsverbrechen in der katholischen Kirche markieren massive Menschenrechtsverletzungen, die Artikel 3 auf dem Gelände einer kirchlichen Institution wie ein trügerisches Versprechen erscheinen lassen. Ähnlich ging es uns bei Artikel 7, dem Diskriminierungsverbot.

Im Jubiläumsjahr der Menschenrechte ist auch darüber zu sprechen, dass die katholische Kirche in ihrer offiziellen Lehre und in ihrem Handeln längst nicht auf der Höhe der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte angekommen ist. Bis heute hat der Heilige Stuhl die Menschenrechtscharta nicht unterzeichnet. Formal hält man nach wie vor an der traditionellen Lehre fest, dass die kirchliche Rechtsgrundlage göttliches Recht sei, das man nicht menschlichem Recht unterordnen dürfe. Nach außen tritt die Kirche zwar immer wieder für die Einhaltung der Menschenrechte ein, in ihrem Inneren aber tun sich nach wie vor tiefe menschenrechtliche Gräben auf. Die offiziellen Verlautbarungen, die noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von einer tiefen Ablehnung der Menschenrechte geprägt waren, betonen heute durchweg deren hohen Wert. Die in der kirchlichen Lehre verankerte anhaltende Diskriminierung von Frauen und queeren Menschen lässt das kirchliche Lob der Menschenrechte aber wie Heuchelei erscheinen.

Die Allgemeine
Erklärung der
Menschenrechte ist
viel weniger eine
Errungenschaft
der Vergangenheit
als ein Projekt der
Gegenwart, das es
fortzuschreiben gilt.

Heiner Bielefeldt hat sich nicht nur als Wissenschaftler mit den Menschenrechten befasst. Er war auch sechs Jahre lang als UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit weltweit unterwegs. Bei einer Anhörung im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestags sagte er im vergangenen Jahr: „Vielleicht wird an keinem Ort der Welt so viel geheuchelt wie bei den Sitzungen des Menschenrechtsrates in Genf. Allerdings wird die Heuchelei dort auch immer wieder schnell entlarvt und öffentlich zur Sprache gebracht.“ Bielefeldt verweist in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Rolle der wachen Zivilgesellschaft. Wenn Menschen sich heute trauen, auf Lücken in der Menschenrechtserklärung hinzuweisen – etwa beim Asylrecht –, wenn Menschen mit einer Behinderung für ihre Rechte laut werden, wenn Menschen, deren Würde in der Kirche missachtet wurde oder die Diskriminierung erfahren, sichtbar werden, dann tun sie das auch, weil sie sich in ihrem Protest durch die Menschenrechte bestärkt fühlen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat eine Dynamik entwickelt, die nicht mehr aufzuhalten ist. Dazu ist sie zu widerständig. Und das ist sie deshalb, weil sie Menschen in der Zivilgesellschaft dazu ermutigt, Widersprüchlichkeiten und Heucheleien wahrzunehmen und aufzudecken, sei es im Menschenrechtsrat oder in der Kirche.

Der 75. Jahrestag der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist ein Grund zum Feiern. Aber es ist kein Tag, um sich auszuruhen. Denn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist viel weniger eine Errungenschaft der Vergangenheit als ein Projekt der Gegenwart, das es fortzuschreiben gilt. Dass unsere Menschenrechtsaktion in der Hochschulgemeinde eher Widerspruch und Diskussionen auslöst als selbstgenügsame Feierlaune, ist vielleicht das beste Geburtstagsgeschenk, das wir der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte machen können.

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