Manche Revolutionen hinterlassen große Spuren, bei anderen muss man sehr genau hinschauen. Auf dem höchsten Turm der Festung in der Hafenstadt Sousse hat jemand ein unauffälliges Graffiti hinterlassen. „We make history“, steht da. „Wir schreiben Geschichte.“ Und als ich an diesem bewölkten Vormittag davorstehe, kann ich die Botschaft nur als kleine Erinnerung an den Arabischen Frühling lesen. Als Erinnerung an die Revolution, die vor 13 Jahren auch in dieser Touristenstadt die Verhältnisse auf den Kopf stellte. An Jugendliche, die in einer Diktatur aufgewachsen sind, und plötzlich den Mut hatten, auf die Straße zu gehen. An Ben Ali, einen Machthaber, der seit 20 Jahren im Amt war, und binnen weniger Wochen aus dem Land vertrieben wurde. Von Tunesien aus erfasste das Feuer der Revolution Anfang 2011 ein arabisches Land nach dem anderen. Im Westen schaute man begeistert zu, wie die Diktaturen ins Straucheln kamen, Zeitungen riefen schon die nächste große Demokratisierungswelle aus, und alle waren sich sicher, dass die Zukunft für die arabische Welt nur besser werden kann.
Als ich einige Jahre später meine Dissertation über die Rolle von sozialen Medien im Arabischen Frühling geschrieben habe, sah die Situation schon anders aus. In einigen Ländern übernahmen Regime die Macht, die noch brutaler vorgingen als die eben abgesetzten Diktatoren, andere rutschten in einen dauerhaften Bürgerkrieg mit ungewissem Ausgang. Nur Tunesien galt damals noch als leuchtendes Beispiel, wie es funktionieren könnte. Das kleine Land, in dem die Revolution mit der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers Ende 2010 ihren Anfang nahm, hatte sich inzwischen eine demokratische Verfassung gegeben und schon die erste freie Wahl hinter sich. Doch auch hier hat sich die Stimmung inzwischen gedreht: Die angekündigten Sozialreformen blieben weitgehend aus, in den 13 Jahren seit Beginn der Aufstände gab es insgesamt neun Ministerpräsidenten, die oft nur wenige Monate im Amt blieben. Im März 2022 löste der parteilose Präsident Kais Saied das tunesische Parlament auf und ließ es mit einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung neu wählen. Einige westliche Beobachter sehen hier sogar einen indirekten Putsch. Das zarte Pflänzchen der Demokratie sei damit auch in Tunesien wieder abgestorben, urteilen sie. Es sind also durchaus gemischte Gefühle mit denen ich diese CIG-Leserreise von Lingua & Cultura Tours antrete.
Erste Station unserer Reise ist das Bardo-Museum, das größte archäologische Museum in Tunesien, gerade mal 20 Minuten vom Flughafen entfernt. Der Stopp stand nicht auf dem Plan, es ist ein glücklicher Zufall, dass das Gebäude nach Jahren der Renovierung wieder geöffnet ist. Aber es hätte wohl keinen eindrucksvolleren Start in diese Reise geben können. In schnellen Schritten geht es durch die wechselhafte Geschichte Tunesiens. Wir sehen die fantastischen, teilweise gigantischen Mosaike, die die Römer hier hinterlassen haben, nachdem sie den Erzfeind Karthago hier an diesen Küsten vernichtend geschlagen hatten. Wir stehen vor großen Taufbecken, aus der Zeit, als die ersten christlichen Gemeinden in der Region gegründet wurden. Einen Raum weiter warten muslimische Wandbilder, die das Bilderverbot so ernst nehmen, dass sie die Welt in abstrakten geometrischen Figuren und Mustern darstellen. Manchmal haben die Künstler dabei bewusst kleine Fehler in ihre Werke eingebaut, so erzählt man sich. Weil nur Gottes Schöpfung vollkommen sei. Auf unauffälligen Fresken findet man Szenen, die Islam und Christentum bekannt sind: Adam und Eva vor dem Baum der Erkenntnis. Abraham, der bereit ist, seinen Sohn zu opfern. Das letzte Fresko zeigt Daniel in der Löwengrube – eine Geschichte, die womöglich eine noch stärkere Wirkung entfaltet, wenn man tatsächlich im Schatten römischer Amphitheater lebt.
In jüngerer Geschichte wurde das Bardo-Museum selbst Schauplatz von historischen Verbrechen. Im Jahr 2015 überfielen islamistische Terroristen die Anlage und töteten 24 Menschen. Es war einer von zahlreichen schrecklichen Anschlägen in dieser Zwischenzeit, in der das alte Regime gestürzt, aber noch keine dauerhafte neue Regierung eingesetzt war. Im Westen bekam man von dieser Phase der Unruhen nicht viel mit, Tunesien galt für viele immer noch als demokratisches Vorzeigeland der Region. Doch im Gespräch mit Einheimischen zeigt sich schnell, dass die Menschen vor Ort die Schattenseiten und die Nachwehen der Revolution nicht vergessen haben. Manchmal spürt man Erleichterung, dass Präsident Saied nach den Jahren der Instabilität mit einem neuen Parlament einen neuen Kurs einschlägt. Von einem Putsch will hier niemand sprechen. Saied ist immerhin Professor für Verfassungsrecht. So einer wisse schon, was er tut und wie weit er gehen kann, ohne gegen geltendes Recht zu verstoßen, heißt es. Allerdings scheinen die meisten Tunesier andere Sorgen zu haben als theoretische Überlegungen über die „richtige“ Staatsform. Die Arbeitslosigkeit in dem kleinen Land liegt noch immer bei 15 Prozent – dreimal so hoch wie in Deutschland. Auch wer gut ausgebildet ist, findet oft keine passende Stelle, und wenn doch, wird sie meist nicht gut bezahlt.
In Europa war der tunesische Präsident in den letzten Monaten vor allem in Verbindung mit dem Migrationsabkommen zwischen EU und Tunesien in den Schlagzeilen. Gegen Zahlungen in Milliardenhöhe sollten Flüchtlinge vor Ort abgehalten werden, sich auf den gefährlichen Seeweg nach Europa zu machen. Saied hatte den „umfassenden Partnerschaftspakt“ selbst unterzeichnet. Anfang Oktober kippte die Stimmung dann. In einer offiziellen Mitteilung ließ er verkünden, sein Land lehne das Vorgehen der europäischen Politik ab, man sei nicht auf „Almosen“ angewiesen. Eine Summe von 60 Millionen Euro, die bereits überwiesen war, hat er inzwischen an die EU zurückgezahlt. Wie es mit dem Abkommen weitergeht, ob man nachverhandeln und zu einer langfristigen Einigung kommen kann, lässt sich schwer sagen. In Europa wächst die Angst, dass sich die EU hier erpressbar macht, so wie auch der türkische Präsident Erdoğan immer wieder mit dem Schicksal von Migranten gespielt hat, um Brüssel unter Druck zu setzen.
Heute erinnern noch einige Ausgrabungsstücke und Tempelruinen an die Zeit, als nicht kleine Flüchtlingsboote, sondern die mächtigsten Kriegsflotten der Antike übers Mittelmeer kreuzten. Viel ist nicht mehr übrig geblieben vom einst so mächtigen Karthago. Die Römer waren recht gründlich in ihrem Bestreben, den unliebsamen nordafrikanischen Konkurrenten auszulöschen. Ein paar Grabbeigaben und Inschriften sind noch erhalten und erinnern an den religiösen Kult, um den antiken Gott Baal. Der Name, der eigentlich ein Titel ist und schlicht „Herr“ bedeutet, klingt auch in unseren Ohren noch düster. Nicht nur die verfeindeten Römer verbreiteten, dass diesem Gott grausame Menschenopfer gebracht wurden, auch im Alten Testament findet sich der Vorwurf. „Sie haben dem Baal Kulthöhen gebaut, um ihre Kinder als Brandopfer für den Baal im Feuer zu verbrennen“, klagt der Prophet Jeremia (19,5). Ob es sich tatsächlich so abgespielt hat, lässt sich im Nachhinein nicht mehr sagen, erklärt uns der Fremdenführer. Wenn man heute Kinderknochen vor Kultbildern des Baal findet, wissen wir nicht, ob sie geopfert wurden oder ob trauernde Eltern ihre verstorbenen Kinder in der Nähe ihres Gottes bestattet haben. Dass die Karthager selbst ein durchaus positives Bild von ihrem Gott hatten, zeigt schon der Name ihres bekanntesten Heerführers: Hannibal – „Baal ist gnädig“.
Uns begegnet Hannibal auf unserer Reise nur als lebensgroße Plastikfigur. Zusammen mit seinen Elefanten, mit denen er im Herbst 218 v.Chr. die Alpen überquerte, um gegen Rom zu ziehen, steht er vor einem Vergnügungspark. Der Park liegt allerdings recht verlassen da. Die tunesische Wirtschaft, die auch schon vor dem Arabischen Frühling schleppend lief, hat durch Corona und das Ausbleiben der Touristen einen weiteren Schlag erlitten. Dazu kommt eine Dürreperiode, die seit fünf Jahren anhält. Obwohl der Oktober immer der regenreichste Monat der Region war, bekommen wir in der Woche, die wir hier verbringen, nur einmal einen leichten Nieselregen mit. Wenn die Dürre anhält, steigen die Getreidepreise und damit die Armut. Aus meiner Forschung zum Arabischen Frühling weiß ich: Auch damals ging alles mit Ernteausfällen und Dürre los. Wenn die Menschen existenzielle Not erleben und das Gefühl haben, sie könnten nichts mehr verlieren, dann gehen sie auf die Straße. „Erst kommt das Fressen“, fasst ein Mitreisender drastisch, aber treffend zusammen.
Aktuell merkt man in den Städten allerdings wenig von politischer Umbruchstimmung. Die Avenue Habib Bourguiba mit ihrem großen Springbrunnen in der Hauptstadt Tunis, die 2011 einer der wichtigsten Treffpunkte der Revolution war, ist wieder eine normale Verkehrsstraße. Für mich ein unwirkliches Gefühl, nachdem ich so oft Videos und Fotos gesehen habe, auf denen sich genau hier Menschenmassen gedrängt haben, um ihren Diktator zu stürzen. Die Straße hat für viele Menschen eine besondere Bedeutung: In einem schmucklosen Betongebäude hat das Innenministerium des Landes seinen Sitz. Vor der Revolution war hier aber auch die berüchtigte Geheimpolizei, die „Direktion für Staatssicherheit“ untergebracht. Im Erdgeschoss war ein Zellentrakt eingerichtet, in den oberen Etagen wurden Verdächtige verhört – und gefoltert, wenn sie nicht die passenden Geständnisse abgelegt haben. Während ich die Passanten beobachte, die jetzt vor dem Gebäude ihrer Wege gehen, und die Menschen, die am Rand des großen Springbrunnens Platz genommen haben, wird mir wieder einmal klar, wie nah die Schrecken der Diktatur noch sind.
Als nach dem Sturz von Ben Ali bei den ersten freien Wahlen ausgerechnet die islamistische Ennahda-Partei die Mehrheit gewann, bekam das Bild vom Arabischen Frühling für einige westliche Beobachter erste Risse. Dass jeder dritte Wahlberechtigte eine Partei unterstützten würde, die die Scharia zur wichtigsten Rechtsgrundlage machen wollte, hatte kaum jemand vorhergesehen. Tatsächlich kann man schnell vergessen, dass der Islam noch immer festgeschriebene Staatsreligion ist, wenn man durch die Straßen der Hauptstadt streift. Man sieht westliche und klassischere Kleidung, Frauen mit und ohne Kopftuch, der regelmäßige Ruf des Muezzin wird bald ein Hintergrundrauschen, auf das keiner mehr groß achtet.
Dass Tunesien aber auch eine sehr religiöse Seite hat, wird spätestens am dritten Tag unserer Reise klar. Wir besuchen Kairouan, ein spirituelles Zentrum Nordafrikas und neben Mekka, Medina und Jerusalem eine der wichtigsten Städte für Muslime. Mitte des 7. Jahrhunderts zunächst als arabisches Heerlager gegründet, wurde Kairouan zu einem strategischen Knotenpunkt für die Verbreitung des Islam in der Region. Die eindrucksvollste Sehenswürdigkeit der Stadt ist die Große Moschee: Hohe Mauern schließen den Komplex ein, von einem gewaltigen Innenhof geht es in den mit farbigen Teppichen ausgelegten Gebetsraum. Eindrucksvolle Säulenhallen und riesige Kronleuchter sprechen von der Bedeutung des Ortes. Für unsere Gruppe bleibt es leider beim Blick von außen – der Eintritt ins Innere der Moschee ist Muslimen vorbehalten.
Dafür öffnen sich wenig später die Pforten zu „Eden“ vor uns. Hinter dem klangvollen Namen steckt ein eindrucksvoller Dattelhain mit angrenzendem Museum. Unter den harschen Bedingungen der Wüste galt die Dattel als direktes Geschenk Gottes, erfahren wir. Nach manchen Überlieferungen sollen die ersten Menschen im Paradies sogar groß wie Palmen gewesen sein. Ein Reiseführer erklärt unserer Gruppe die biologischen Besonderheiten der Dattelpflanze, an welchen kleinen Hinweisen man weibliche und männliche Exemplare auseinander halten kann und warum Palmen keine Bäume sondern streng genommen Gräser sind. Zwischendurch gibt es auch immer wieder Gelegenheit die reifen Datteln zu kosten, die hier noch einmal ganz anders schmecken als getrocknet in Deutschland – es gibt sie nicht nur pur, sondern auch als Marmelade oder Süßungsmittel zum traditionellen Tee. Nur am Rande bekommen wir mit, dass der Fremdenführer eigentlich ausgebildeter Lehrer ist und jetzt Touren für Touristen anbietet, weil er von dem Gehalt, das der Staat ihm zahlt, nicht leben kann.
Wie sich die wirtschaftlichen Probleme im Alltag der Menschen auswirken, erfahren wir auch, als wir bei einer Berberfamilie zum Mittagessen eingeladen sind. Manche Angehörige dieser Volksgruppe, die sich selbst „Imazighen“ nennen („freie Menschen“), leben noch wie ihre Vorfahren in den klassischen, in die Wüstenfelsen gehauenen Höhlenwohnungen. Der Stein ist mit weißer Farbe gestrichen und mit Teppichen ausgelegt, durch den nach oben geöffneten Innenhof fällt Licht in alle Räume, ohne dass man der Wüstensonne direkt ausgesetzt ist. An die Felsenwände gemalte Symbole geben Einblick in eine Glaubenswelt, die sich wie ein Mosaik aus verschieden Traditionen zusammensetzt: Neben dem muslimischen Halbmond und der Hand der Fatima, die Glück und Segen verheißen soll, ist auch ein Fisch abgebildet. Das Bild kam mit den ersten Christen in die Region, wird inzwischen aber vor allem als Symbol für Fruchtbarkeit und Fülle verwendet. Wer in der Wüste lebt, sieht das Meer als heilige Quelle des Lebens.
Die Innenräume sind gemütlich gestaltet und voller Geschichten vom ganz normalen Familienleben: An der Wand hängen Fotos von Verwandten und Urkunden der Kinder. In einer Ecke steht ein alter Fernseher und eine kleine Katze streicht um die Besucher, immer bereit etwas Fleisch von dem niedrigen Tisch zu stehlen. Doch auch hier, in diesem scheinbar aus der Zeit gefallenen Höhlenhaus, ist der harte Arbeitsmarkt in den Städten draußen Thema. Die Kinder wären eigentlich schon lange ausgezogen und hätten eigene Familien gegründet, erfahren wir. Aber in der angespannten Lage finden sie keine Stelle. Mit den Eltern, die uns so herzlich willkommen geheißen und zum Mittagessen bewirtet haben, können wir uns kaum verständigen. Weder auf Englisch noch mit unserem Schulfranzösisch. Um nicht ganz wortlos zu gehen, wollen wir uns schließlich mit einem Lied bedanken und landen bei Viel Glück und viel Segen, das wir – mehr schlecht als recht – im Kanon singen. In diesem Felsenhaus in der Wüste wirkt das altbekannte Lied erstaunlich passend.
Überhaupt entfalten einige bekannte Phrasen und Sprichworte in diesen Tagen in der Wüste neue, tiefere Bedeutung. Als wir im Salzsee Chott el Djerid stehen, so weit das Auge reicht nur von Sand und krustigem Salz umgeben, spüren wir für einen Moment wie gefährlich und entbehrungsreich eine Wüstenwanderung tatsächlich ist. Die Sonne steht hoch am Himmel und am Horizont scheinen verwaschene Linien in der Luft zu schweben: eine Fata Morgana, die an Wasser oder eine weit entfernte Stadt erinnern kann. In der Vergangenheit sollen immer wieder verirrte Wanderer auf diese Luftspiegelung hereingefallen und den falschen Bildern tiefer in die Wüste gefolgt sein. Ich denke in dem Moment aber vor allem an die Bibelpassage, in der Jesus in die Wüste geht und vom Teufel mit trügerischen Visionen heimgesucht wird. Verstehen Menschen, die ihr ganzes Leben in und mit der Wüste leben, eine solche Erzählung nicht viel intuitiver?
Andere Erfahrungen sind optimistischer: Wann immer wir an einer Oase vorbeikommen, bei der lebendiges Grün aus dem kargen Wüstenboden sprießt, wird klar, warum die Bibel Gottes Wort mit einer Quelle vergleicht. Wasser ist hier nicht nur das kostbarste Gut, sondern die eine und einzige Grundlage für Leben. Bei ihrer Wanderung durch die Wüste erleben es die Israeliten als Wunder, als plötzlich eine Quelle aus einem Stein hervorbricht. Und bei Jesaja verspricht Gott seinem Volk nicht Reichtümer, sondern Trinkwasser: „Ich will die Wüste zu Wasserseen machen und das dürre Land zu Wasserquellen“ (41,18).
Während ich noch über Bibelpassagen nachdenke, bringen uns ein paar Jeeps zum Handlungsort einer anderen großen Erzählung. Hier in der tunesischen Wüste wurden weite Teile der frühen Star Wars-Filme gedreht, eine Tatsache, auf die viele Einheimische spürbar stolz sind. Noch immer kann man die hellen Kuppelbauten besichtigen, die durch Maskenbildner und Computereffekte von einer bunten Schar an Außerirdischen bevölkert wurden. Das zeitlose Weltraum-Märchen, das laut Vorspann „vor langer Zeit“ spielt, aber doch nach Zukunft aussieht, hat schon Generationen von Filmfans in seinen Bann gezogen und sogar eine offiziell anerkannte Religion inspiriert. Die Hauptfiguren der Filme glauben an eine unsichtbare „Macht“, die sie umgibt und über den Tod hinaus bewahrt. Gleichzeitig werden sie durch ihr spirituelles Verständnis zu mächtigen Kriegern für das Gute im Kampf gegen ein böses Imperium. Doch die Welt ist auch im Kino nicht immer schwarz und weiß – der Krieg der Sterne endet nicht mit einem finalen Blutvergießen, sondern mit einer Versöhnung. Darth Vader, der für die ganze Filmreihe die düstere Inkarnation des Bösen war, erkennt seinen falschen Weg und nimmt seinen Helm ab. Die Zuschauer, die eben noch darauf hingefiebert haben, dass der Schurke besiegt wird, erkennen: Auch er ist ein Mensch. Die Geschichte des ikonischsten Bösewichts der Filmgeschichte endet als Bekehrungserzählung.
Wir sind noch dabei, das Filmset zu besichtigen, da ballt sich am Horizont ein kleiner Sandsturm zusammen. Von einem Moment auf den anderen weht uns der Wind Sandkörner und Staub ins Gesicht und wir suchen Schutz in den Jeeps. Die Fahrer finden trotz eingeschränkter Sicht sicher den Rückweg und wir haben mitten im Sturm einen Moment der Ruhe, während der Sand an die Scheiben prasselt. Wieder wird klar, dass die Wüste eine sehr menschenfeindliche Umgebung sein kann. Hier kann man nur überleben, wenn man zusammenarbeitet und aufeinander achtet, wenn ein Sturm tobt. Das gilt für verschiedene Völker und auch über die Generationen hinweg. „Wir essen von den Palmen, die unsere Großeltern gepflanzt haben“, sagt man hier. „Und wir pflanzen Palmen, damit unsere Enkel davon essen können.“ Eigentlich sollte man annehmen, dass ein Leben in der Wüste hilft, Grenzen zwischen Menschen abzubauen.
Dass es in Wirklichkeit manchmal anders aussieht, bekommen wir auf dieser Reise immer wieder mit. Der Nahostkonflikt, der zuhause in Deutschland schon hohe Wellen schlägt, ist hier fast allgegenwärtiges Hintergrundrauschen. Auf der Straße werden kleine Palästina-Flaggen geschwenkt, und wenn man den Fernseher im Hotelzimmer einschaltet, stehen die Chancen gut, Berichterstattung aus zerstörten Gebieten in Gaza zu sehen. Die Perspektive ist hier eindeutig: Tunesien steht auf der Seite der Palästinenser. Daran lässt auch die Politik keinen Zweifel. Wie ich später erfahre, wurde just in der Woche, die wir in Tunesien verbracht haben, über ein Gesetz diskutiert, das die Zusammenarbeit mit israelischen Organisationen als „Hochverrat“ unter Haftstrafe stellen soll. „Wiederholungstäter“ könnten sogar lebenslänglich weggesperrt werden. „Wir sind davon überzeugt, dass Palästina vom Fluss bis zum Meer befreit werden muss“, unterstrich Parlamentspräsident Brahim Bouderbala in einer Rede. Mit dem Fluss ist der Jordan gemeint, mit dem Meer das Mittelmeer, für einen Staat Israel ist in dieser Rechnung also kein Platz. „Deutschland hat seine Sicht auf den Konflikt, und Tunesien hat seine Sicht“, wurde uns zu Beginn unserer Reise erklärt. In diesem Punkt Diskussionen mit den Einheimischen anzufangen, die sonst gern und offen über alles Mögliche sprechen, würde zu nichts führen.
All das geht mir durch den Kopf, als ich am letzten Tag auf dem Festungsturm in der Hafenstadt Sousse stehe. Und für einen Augenblick scheint es so, als hätte man von hier oben die ganze Geschichte Tunesiens im Blick. Von der einen Seite schaut man über die Stadt auf wimmelnde Gassen, in denen kleine Schmuckstücke, Tee und Kleider verkauft werden. Es ist nicht so lange her, dass in diesen Straßen Menschenmassen gegen die Ben Ali-Diktatur protestiert haben. Und vielleicht stand jemand genau an dieser Stelle und schrieb hoffnungsvoll das „We make history“-Graffiti auf die Mauer. Von hier kann man auch die Universität sehen, an der Kais Saied jahrelang als Juraprofessor gelehrt hat, bevor er Präsident wurde und begann, das Land politisch umzubauen. Auf der anderen Seite sieht man übers Mittelmeer – das Meer, über das sich heute Hundertausende Menschen auf den Weg nach Europa machen. Und über das einst die römische Flotte kam, um Karthago zu vernichten. Als wir die Festung verlassen, sehe ich, dass die Säulen, die den Eingang stützen, nicht zueinander passen. Die linke sieht klassisch-antik aus, die rechte älter und verwitterter. Baumeister haben immer wieder Säulen aus dem alten Karthago verwendet, um aus dem Alten etwas Neues aufzubauen. Vielleicht ein passendes Bild. Die Geschichte dieses faszinierenden, bunten, düsteren, armen, reichen, widersprüchlichen Landes wird noch geschrieben.