Der Wald hat viele Facetten. Wer Entspannung sucht, kann bei ausgedehnten Spaziergängen dem Rauschen der Bäume lauschen. Der Wald ist aber auch ein bedrohtes Mitgeschöpf, dem Borkenkäfer und der Klimawandel zu schaffen machen. Als „Holz gewordene Geschichte“, „geronnene Zeit“ und „ein über die Landschaft gelegtes Gedächtnis“ bezeichnet der Philosoph und Online-Kolumnist des Magazins Cicero, Alexander Grau, den Wald. In seinen erhellenden Ausführungen nimmt der 1968 geborene Autor unter anderem auf Heinrich Heine, Adalbert Stifter und Jean-Paul Sartre Bezug, ebenso auf den dänischen Theologen und Philosophen Søren Kierkegaard.
In seinem anspruchsvollen und anregenden Essay, der sich in sechs Kapitel gliedert, gelingt es dem Wissenschaftsjournalisten, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen, ohne sich dabei auf den berühmt-berüchtigten Holzweg zu begeben. Er geht der Frage nach, was der Wald für die Existenz des Menschen bedeutet. „Ohne den Lebensraum Wald wären wir andere Wesen. Wir würden uns anders bewegen, anders fühlen und uns anders verhalten“, schreibt Grau.
Der Wald braucht den Menschen nicht, um zu überleben. Umgekehrt ist es anders. Der Mensch ist dem Wald ausgeliefert, auch wenn er aus ihm vielfach eine Kulturlandschaft gemacht hat. Doch dieser fordert als „Antagonist der Zivilisation“ selbstbewusst zurück, was ihm gehört, auch wenn der Mensch in ihm und mit ihm wirtschaftet und wirkt: „Der Wald erinnert uns daran, dass es etwas gibt, was sich unseren Versuchen, die Welt in ein Korsett aus Normen, Zielen und Sinnhaftigkeiten zu quetschen, verweigert.“ In diesem „Refugium der Freiheit“, wie Grau es nennt, kann der Mensch lernen, wie unsicher und unberechenbar das Leben ist. Der Wald lehre, dass nichts absolut sei: „Weder die Freiheit des Menschen noch seine Unfreiheit.“
Gerade in der Literatur mutet der Wald oftmals wie ein bedrohlicher und dunkler Ort an. Treiben hier doch Räuber ihr Unwesen. Sei es in Otfried Preußlers Kinderbuch-Welt als Hotzenplotz, der für Gold und Lieder spielende Kaffeemühlen schwärmt; oder seien es bei Hauff jene Räuber, die im Spessart Postkutschen überfielen. Wer in den Märchen der Brüder Grimm schmökert, begegnet Hänsel und Gretel. Die beiden Geschwister verlaufen sich im Wald. „Es war so finster und auch so bitter kalt“, heißt es in einem Kinderlied, das um 1900 entstanden ist. Die Grimm’schen Wälder seien „Orte des Erwachsenwerdens“, so Grau. Das Verirren interpretiert der Autor als jene verwirrenden Wahlmöglichkeiten des Lebens, die aufgrund der Freiheit zur Verfügung stehen. In Anlehnung an Martin Heidegger folgert Grau: „Verirrt sein, ist so was wie der existenzielle Normalzustand des Menschen. Wir alle sind verirrt.“ Der Wald wird so zum Ort der Bewährung und einschneidender Erfahrungen. In den Religionen war er Ort von Heiligtümern, Wohnsitz von Göttern und Geistern.
Viele kulturelle Denkmuster werden auf den Wald projiziert. Mit Beginn der Romantik erscheint der Wald als etwas Heimeliges, wo man, um mit Goethes Gedicht Gefunden zu sprechen, „so für sich hin“ geht. Literatinnen und Literaten, Künstlerinnen und Künstler stilisieren den Wald zum Kunstprodukt als Gegenpol zum ungemütlichen und lebensfeindlichen Stress der Städte. Selbst Alexander von Humboldt propagierte, dass die Natur gefühlt werden müsse.
Jahrhunderte später ist der Wald immer noch Zufluchtsort. Jetzt für den freiheitsliebenden, vielleicht auch freiheitssuchenden Menschen der digitalisierten Moderne. Abstand vom Alltag gilt es zu bekommen. Touristikunternehmen werben mit der wohltuenden Wirkung von Waldspaziergängen, dem Umarmen von Bäumen, dem Waldbaden für Körper und Psyche. Bei stressgeplagten Großstadtmenschen wecken diese Erlebnisse Assoziationen der Freiheit, wenn sie etwa das Geräusch der Blätter im Wind vernehmen oder Moos am Waldboden ertasten. Grau hält nichts von solchen Angeboten, die dazu verhelfen sollen, „zurück zu einer authentischeren Naturwahrnehmung und Selbsterfahrung zu kommen“. Für ihn sind sie „nicht nur intellektueller Kitsch der Extraklasse“, sondern sie „übersehen in ihrer Selbstfixiertheit, dass der Wald genau jener Lebensraum ist, der mehr als alle anderen Landschaften sich einer umfassenden und doktrinären Sinnfindung entzieht“.