Papst und UkraineVatikanische Lernresistenz

Einen solchen medialen Aufschrei wie nach der Meldung über Papst Franziskus’ Interview zur „weißen Fahne“ am 9. März hat es lange nicht gegeben. Dabei ist die Haltung des Papstes zum Krieg in der Ukraine seit spätestens zwei Jahren bekannt und nahezu unverändert.

Für Papst Franziskus ist dieser Krieg eine menschliche Katastrophe, dessen Gewinner in erster Linie die Rüstungsindustrie sei und unter dem unschuldige Menschen, vor allem das „gepeinigte ukrainische Volk“, aber auch viele Menschen in Russland, litten. Die Verantwortung für den Krieg sieht Franziskus unerschütterlich bei allen Seiten und schließt die NATO dabei nicht aus. Darum fehlt auch nach zwei Jahren eine eindeutige vatikanische Verurteilung der russischen politischen und kirchlichen Führung für diesen völkerrechtswidrigen Krieg und seine imperialistische Ideologie, und ein eindeutiger Aufruf an Russland, seinen Krieg unverzüglich zu beenden.

Vor diesem Hintergrund sind die jüngsten Äußerungen wenig überraschend oder neu. Man wird abwarten müssen, wie das Interview in Gänze klingt. Aber völlig unabhängig davon, ob Papst Franziskus das fragwürdige Bild der „weißen Fahne“ als Mut zum Aufgeben oder Mut zum Verhandeln verstanden wissen wollte – die internationale Empörung zeigt den wunden Punkt, den Franziskus in seiner Haltung zu diesem Krieg immer wieder trifft: Niemand kann diesen Krieg beenden, solange Russland ihn führen will, und die Ukraine ist eben nicht nur ein armes gepeinigtes Opfer, sondern eine Gesellschaft, die sich und ihre Selbstbestimmung verteidigt. Mit beidem hat Papst Franziskus, aber auch der Vatikan insgesamt ein Problem.

Zum einen kommuniziert der Vatikan seit Jahrzehnten ökumenisch und diplomatisch mit Osteuropa über Moskau. Man hat dabei die seit Jahrzehnten absehbare Entwicklung Russlands in einen autokratischen Staat mit einer repressiven Kirchenleitung nicht wahrgenommen oder verdrängt, so dass dieses absolut zielgerichtete Handeln in der Ukraine unvorstellbar war und bleibt. Viele Jahre war man sich mit Moskau einig, dass „das Böse“ eher aus dem Westen, von säkularen, demokratischen und liberalen Werten und von Washington kommt. Es stellt darum ein unüberwindbares Problem dar, dass man das tatsächliche Böse – einen durch nichts provozierten aggressiven Vernichtungskrieg eines sich als christlich darstellenden Systems – nicht mit freundlichen Gesprächen oder Verhandlungen aufhalten kann.

Es wäre, und das ist das zweite Problem, in dieser Situation für den Vatikan und für die viele Menschen, die sich sofort hinter der „weißen Fahne“ des Papstes versammelten, einfacher, wenn die Ukraine einwilligen würde in die Opferhaltung und das aufgibt, was bereits als verloren gilt: 20 Prozent des eigenen Landes, tausende Menschen, die nun unter der brutalen Besetzungsmacht leiden und sterben, die eigene Selbstbestimmung. Man könnte sie dann bedauern, für sie beten, trauern – und Russland für jeden lebendigen eingetauschten Kriegshäftling loben. Dass das Opfer sich mit allen Mitteln wehrt, dass es seine Würde, seine Mitmenschen nicht aufgeben will, macht die Lage kompliziert. Menschen, die bis zum Letzten für sich selbst einstehen, sind der Kirche suspekt.

Niemand will den Frieden mehr als die Ukrainerinnen und Ukrainer. Niemand hält dem Papst ernsthaft vor, für den Frieden, für Verhandlungen und gegen den Krieg zu sein. Wohl aber, noch nach zwei Jahren den schuldlos angegriffenen Menschen, die sich gegen die Vernichtung wehren, mangelnden Mut vorzuwerfen.

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