Eine Zeitung, so formulierte es einmal der Freiburger Religionsphilosoph Bernhard Welte (1906–1983), habe mit dem „jeweils sich Zeitigenden der Welt“ zu tun. Und dieses sich Zeitigende wiederum sei stets „von mannigfaltigen Auseinandersetzungen erfüllt“. Es tut gut, heute solche historischen Beobachtungen zu lesen. Meinen wir doch oft, dass nur wir selbst in einer außergewöhnlichen Phase der Geschichte leben mit Phänomenen, die es vor uns noch nie gegeben hat.
Nein, so sagt es Welte – und der gesunde Menschenverstand: Gestritten über den rechten Kurs wurde und wird in freien Gesellschaften (und selbst in der Kirche) immer. „Beständig“ gebe es einen Wettstreit unterschiedlicher Kräfte, „zum Beispiel konservative der verschiedensten Art und fortgeschrittene, gleichfalls der verschiedensten Art“. Die einen würden das Vergangene bewahren wollen, die anderen „vorauslaufen ins Künftige“. Zu allem Überfluss – auch das ist nichts, worauf unsere Zeit ein Patent hätte – sind die Verhältnisse oft gar nicht so klar, wie sie auf den ersten Blick scheinen. „Manches Wort, mancher Gedanke, manche Bewegung gehört, indem sie gegenwärtig geschieht, mehr dem Vergangenen an, andere Worte, Ideen und Bewegungen, die gleichfalls in der gegenwärtigen Zeit geschehen, sind noch gar nicht an der Zeit und weisen ins Künftige.“
Für Bernhard Welte war damals klar, dass es „den Mann der Zeitung“ braucht, um in dieser unübersichtlichen Situation für Orientierung zu sorgen. Heute würden wir zwar nicht mehr derart männlich-patriarchal formulieren, sondern inklusiv und angemessen von Journalistinnen und Journalisten reden. Aber lange war das wirklich die ureigene Aufgabe von Medienschaffenden: Sie sollten, wie es Welte ausdrückte, gleichsam „Seher“ sein, die Zeichen der Zeit erkennen, benennen und deuten. Als Gatekeeper-(„Torwächter“-)Funktion hat man das später beschrieben.
Und da sind inzwischen eben doch zwei gewaltige Unterschiede zu Weltes Zeit festzustellen. Erstens wird heute lauter, aggressiver und verletzender gestritten als früher. Die neuen Medien geben jedem das Werkzeug an die Hand, um selbst zum Sender zu werden. Das Ergebnis ist bisweilen eine Kakophonie auch der wildesten, abartigsten, menschenfeindlichsten Äußerungen. „Jeder Geisteskrampf wird ganz einfach mal gesagt“, stellte Herbert Grönemeyer schon auf seinem vorletzten Album mit dem bezeichnenden Titel Tumult fest.
Der zweite fundamentale Unterschied betrifft „den Mann/die Frau der Zeitung“. Sie haben bildlich gesprochen gar kein Tor mehr, das sie bewachen könnten. Mehr noch: Man begegnet ihnen oft mit Misstrauen oder feindet sie an. Wie unklar die Rolle der klassischen Medien geworden ist, zeigen aktuelle Diskussionen. So beklagte die Journalistin Anne Hähnig in der Zeit soeben eine „Meinungsmonotonie“ bei vielen Journalistinnen und Journalisten. Ob Flüchtlingskrise, Corona oder jetzt der Ukrainekrieg – die deutschen Medien würden „auffallend einhellig“ berichten. Auch bei Kirchenthemen regiere oft der „Mainstream“, schimpfen viele. Manche rufen sogar einen Kulturkampf aus.
In dieser Schärfe stimmt das sicherlich nicht. Wer als Journalist sein Handwerk gewissenhaft betreibt, wird immer auf „die andere Seite“ eingehen, soweit sie konstruktiv daherkommt. Trotzdem sind solche selbstkritischen Anfragen gut, um das Bewusstsein zu schärfen. Nur der sachliche Streit der Meinungen bringt uns voran.