Am 1. Mai 1841 soll in München die erste Maiandacht auf deutschem Boden gefeiert worden sein: von drei Ordensfrauen im Stadtteil Haidhausen. Zwar gab es Maiandachten schon seit der Barockzeit, als der Monat der Gottesmutter Maria geweiht wurde. Doch schlief diese Tradition mit der Zeit ein. Erst 1784 wurde sie in einem Kamillianerkloster im oberitalienischen Ferrara wiederbelebt.
München, im Mai 2024: An der Jesuitenkirche St. Michael hat eine Reihe ökumenischer Maiandachten begonnen. Ökumenische Marienfeiern – wie geht das? Haben protestantische Christen nicht ihre Probleme mit Heiligenverehrung? Und „können“ Jesuiten überhaupt Ökumene, wo doch ihr Ordensgründer den Protestantismus als „Gift“ und „Krebsgeschwür“ bezeichnet hat?
Bei uns jedenfalls ist aus der einstigen Gegnerschaft längst eine ökumenische Partnerschaft, ja Freundschaft geworden. Wir vertrauen einander – oder lernen es immer mehr. Wir besinnen uns auf die gemeinsamen Grundlagen unseres Glaubens, statt überholte kontroverstheologische Positionen zu wiederholen. Und was die Heiligen angeht: Johannes Paul II. sprach einmal von einem „Ökumenismus der Heiligen, der Märtyrer“. Dafür gibt es nicht nur das prominente konfessionsüberschreitende Beispiel des Jesuiten Alfred Delp und des Helmut James Graf von Moltke, die der „Kreisauer Kreis“ zusammengeführt und der Schauprozess vor dem Volksgerichtshof zusammengeschweißt hat. Nein, es gibt auch den gemeinsamen Blick auf Maria! Sie kann die Konfessionen verbinden – so unvorstellbar das vor Jahrhunderten noch gewesen sein mag, gerade im katholischen Bayern der Wittelsbacher.
Den Auftakt unserer Reihe machte Thomas Prieto Peral, Regionalbischof der evangelischen Kirche (München und Oberbayern). Weil kurz vor der Maiandacht ein heftiges Gewitter mit Sturzregen über München hinweggezogen war, meinte er mit einem Augenzwinkern: „Es scheint, als hätten die Wettermächte und -gewalten alles versucht, um noch dagegen vorzugehen. Aber: Wir beten gemeinsam! Die Geschichte von Maria, der Muttergottes, ist viel zu schön und zu reich, als dass der konfessionelle Zwist sie zerteilen sollte.“
Prieto Peral ist verheiratet, seine Frau ist katholisch und Spanierin. Aber nicht nur deswegen ist Maria dem neuen Bischof nicht fremd. Er ist ökumenisch aufgewachsen. Ein Onkel war Benediktinermönch, gemeinsam sangen sie am Ende des Tages oft das Salve Regina, welches dem evangelischen Neffen lange fremd war, das er sich aber „ins Herz gesungen“ habe.
Was mit Maria in den Glauben kommt
Stichwort: Gemeinsam beten. Maria, so Thomas Prieto Peral, sei lange Zeit vor allem als Schutzpatronin des Katholizismus gesehen worden, zu der sie im 19. Jahrhundert gemacht wurde. Oder aber als „eine biblische Figur unter vielen, über die man möglichst wenig spricht, und wenn, dann nur mit Luthers Magnifikat“. Diese „Zerteilung“ sei bedauerlich, denn mit Maria komme doch „etwas Warmes, etwas Liebes in den Glauben – und das tut uns allen gut“. Die katholische Marienfrömmigkeit (in ihrer kastilischen Färbung) ist Prieto Peral durch seine Frau vertraut geworden: Über das Brauchtum Spaniens habe er viel über die virgen (Jungfau) Maria erfahren. Einmal habe ihn seine Schwiegerfamilie zu einer Prozession in ihrem Dorf mitgenommen. Er durfte dabei nicht nur mitgehen, sondern auch die große Trage mittragen, auf der die Madonna thronte. Er habe gefühlt, dass er sich damit „in den Strom der Tradition hineinstellte“.
Damals, so Prieto Peral, habe er Maria einen Beinamen gegeben, der „sein“ Name für sie geworden sei: „Maria des weiten Herzens“. Denn er habe damals gespürt, wie die Herzen bei den Mitziehenden in der Prozession weit wurden. Auch bei ihm, dem Protestanten aus Deutschland. An zwei Bibelstellen, an denen Maria den Heiligen Geist empfängt (Maria mit dem Erzengel Gabriel und Maria im Kreis der Jünger an Pfingsten) zeigte er in der Andacht auf, was er seinerzeit schon gefühlt hatte: Ihr weites Herz habe Maria das Magnifikat singen lassen. Sie war kein stilles Mädchen, sondern eine leidenschaftliche Frau: „Das gefällt mir – eine Maria des weiten Herzens, die Horizonte öffnet.“
Maria hatte immer den Blick für den rechten Moment. Sie konnte das an Pfingsten auch bei den Jüngern erleben: Der Blick wurde klar, die Enge war weg. Urplötzlich, durch das Kommen des Geistes von oben. Weite statt Enge: Das brauche es auch in der ökumenischen Begegnung. „Ich möchte keine Angst vor der Veränderung unserer Kirchen haben. Wir müssen uns verändern. Und wir können es. Maria mit dem weiten Herzen kann uns dabei leiten.“ Maria als Vorbild der Hoffnung – das war auch in Richtung sämtlicher Angstprediger in Politik und Kirche(n) gesagt.
Als er mit seiner Frau über seine Predigt gesprochen habe, sagte sie über die Maria mit dem weiten Herzen: „Für mich steht Maria für die Kraft, die jede Frau besitzt. Jede Frau, die Schmerzen und Leiden erlebt, aber auch großes Vertrauen im Leben erfahren hat – wild und kämpferisch für das, woran sie glaubt, und für das, wofür sie einsteht. Eine Frau, die ihre Stärke aus der alten Linie der Eva schöpft. Maria ist für mich ein Symbol der reifen Frau, die alt wird und weiß, dass alles irgendwann einen Sinn hat. Und die deshalb Vertrauen schenken kann.“ Die Schlussfolgerung des Ehemanns und Bischofs: „Das gefällt auch mir als evangelischem Christen, dem schließe ich mich an.“
Was für ein Schlussakkord! Wenn ich mir vor Augen halte, wie verbissen und unversöhnlich Maria katholischerseits oft vereinnahmt wird – die einen sehen sie als die Revoluzzerin, die anderen als demütige Magd („Maria braucht kein Update: Alles ist klar und eindeutig“) –, dann ist mir die Position des evangelischen Christen Thomas Prieto Peral nicht nur sympathischer. Sie hilft mir auch mehr. Wer „katholisch“ mit „marianisch“ und „päpstlich“ gleichsetzt, instrumentalisiert die Mutter Jesu genauso wie andere, die in ihrem Namen ultimative Reformforderungen stellen. Taugt Maria/Miriam als Patronin für aktuelle Debatten und Suchbewegungen?
„Maria ist die Mutter Jesu. Dieser ganz einfache Satz ist der immer bleibende Ausgangspunkt jeder Glaubenslehre über Maria.“ Das meinte Karl Rahner im Mai 1956 in einer Rundfunkansprache. „Mensch Maria“! Dieser Stoßseufzer ist doppeldeutig: Maria ist Mama, Schwester, Gefährtin im Glauben – eine Frau mit weitem Herzen. Sie kann Horizonte öffnen. Ob wir von ihr lernen (wollen)?