"Das Echo der Zeit"An den Grenzen des Hörbaren

Vier europäische Komponisten zwischen zwei Weltkriegen. Und vier Meisterwerke, die das 20. Jahrhundert prägten.

Wie klang das 20. Jahrhundert? Von den späten, noch immer hoffnungsvollen Ausläufern des langen 19. Jahrhunderts in die Schützengräben des Ersten Weltkrieges über die Zwischenkriegszeit mit ihrem tagtäglichen Kampf ums Überleben in einer Welt, in der nichts mehr sicher schien, was Jahrhunderte Bestand gehabt hatte, bis in den Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts, wo die klassische europäische Musik ihre Fähigkeit, die Zeit und das Denken der Gegenwärtigen selbst zu vertonen und den Menschen eine Stimme zu geben, verlor, berichtet das Buch des amerikanischen Kulturhistorikers Jeremy Eichler von der so verzweifelten wie genialen Suche nach der Rettung der alten Sprache oder der Schaffung einer neuen.

Er erzählt von diesem musikalischen wie menschlichen Ringen anhand der Entstehungsgeschichte von vier musikalischen Meisterwerken des 20. Jahrhunderts, in ihrer kaum greifbaren Spannbreite von der Spätromantik bis hin zu den Abstraktionen der Zwölftonmusik. So begleitet der Leser den alternden Richard Strauss bei seinem vergeblichen Versuch, sich seine Einlassungen mit den Nazis als apolitisches Künstlerstreben schmackhaft zu machen. Die Unmöglichkeit, seine Genialität in der Vollendung der Spätromantik aus den sich verdüsternden Zeitumständen herauszuhalten, wird nirgends so deutlich wie in seiner Zusammenarbeit mit dem jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig – der noch wehmütig die „Welt von gestern“ besingt, während ihn die „Welt von heute“ umbringen wird. Wie Strauss die immer heftiger werdenden antisemitischen Angriffe auf seinen Kollegen schlicht ignoriert und sich auf die Reinheit der Kunst zurückziehen will, zählt zu den stärksten Kapiteln des Werkes.

Parallel dazu erzählt Eichler von dem ebenso vergeblichen Streben Arnold Schönbergs nach jüdischer Emanzipation durch die Kunst. Schönberg, brutal aus der deutschen Kultur vertrieben, die er wie keine andere liebte, entwickelt sich erst zum Überwinder der europäischen Musiktradition, indem er die Zwölftonmusik erschafft, dann zum tragisch scheiternden Zionistenführer und endet, wie viele Exilanten, in den Vereinigten Staaten, wo mitten in einem Wüstenkaff seine persönliche Verarbeitung des Grauens der Shoa aufgeführt wird: A Survivor From Warsaw erschallt zum ersten Mal in Albuquerque, aufgeführt von einem Amateurorchester. Daheim in Europa kulminiert derweil Strauss’ persönliches Scheitern in seinen Metamorphosen.

Es ist die große Stärke dieses ersten Teils von Eichlers Buch, die Schicksale Strauss’ und Schönbergs und ihrer Werke so eng zu verzahnen. Das Buch bekommt damit eine Dynamik und Dichte, die die späteren beiden Teile nicht aufrechterhalten können. Dennoch lohnen sie die Lektüre. So ist über die Entstehung und Bedeutung von Benjamin Brittens War Requiem sicher noch zu wenig gesagt. Das angesichts der Zerstörung der Kathedrale von Coventry entstandene Werk eines an seinem radikalen Pazifismus verzweifelnden Genies bildet wie kein anderes eine Brücke zwischen den beiden Weltkriegen, auch wenn es die Shoa ausspart. Das Gegenteil trifft für Dmitri Schostakowitsch und seine 13. Symphonie zu. Es steht kein Denkmal über Babi Yar – für die tausenden Ermordeten, die in der Schlucht nahe Kiew dahingemetzelt wurden. Und doch scheint das Kapitel zu kurz für das so überreiche Leben des größten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Eichler verbindet Britten und Schostakowitsch erst in einem abschließenden, letzten Kapitel. Manche Fragen bleiben offen. Für alle Interessierten an der (musikalischen) Kulturgeschichte des so gnadenlos lärmenden 20. Jahrhunderts bietet Das Echo der Zeit dennoch eine tönende Fundgrube.


JEREMY EICHLER
DAS ECHO DER ZEIT
Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 464 Seiten, 32€

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