Rechtsruck bei den Europawahlen„Egal“ geht nicht mehr

Die großen Trends bei den Europawahlen machen – einmal mehr – den Ernst der Lage deutlich.

Am Rande des Katholikentags habe ich Buchenwald besucht. Die Gedenkstätte, das ehemalige Konzentrationslager, ist nicht mal eine halbe Stunde von Erfurt entfernt. Und schon vor zwei Wochen habe ich mich gefragt: Hätte es im Katholikentagsprogramm nicht auch das Angebot einer Exkursion dorthin geben können, ja geben müssen?

Angesichts des deutlichen Rechtsrucks bei den Europawahlen – jedenfalls in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien – denke ich wieder an meine Fahrt in die Gedenkstätte. Es war beklemmend, an diesem Ort zigtausendfachen Mordens zu stehen: am Lagerbahnhof, vor dem Kinderblock, am Kleinen Lager, im Krematorium ... Die dokumentierten Schilderungen der Gräuel in Text, Bild und Mauerwerk sind kaum zu ertragen.

Aber auch ein Nebenaspekt beschäftigt mich seither wieder neu: Buchenwald liegt auf dem Ettersberg, von dessen Südrand aus (nicht vom Lager direkt) Weimar zu sehen ist. Weimar – welcher Klang schwingt bei diesem Namen mit! Wieland, Herder, vor allem aber Goethe und Schiller lebten hier. Walter Gropius gründete in Weimar das Bauhaus. Mit dieser Stadt sind Persönlichkeiten und Aufbrüche verbunden, die von einer stetigen Weiterentwicklung der Menschheit überzeugt waren. Letztlich arbeiteten viele hier an einer immer größeren Aufklärung und humanistischen Kultivierung. Und dennoch, in unmittelbarer Nachbarschaft, Buchenwald...

Wenn ich so vor Augen geführt bekomme, wie nah beieinander das Streben nach Höherem und der ultimative Zivilisationsbruch waren, lässt mich das schaudern. Offensichtlich leben wir Tür an Tür mit unseren tiefsten Abgründen. „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“, mahnte der Holocaust-Überlebende Primo Levi. Das macht mich demütig und stumm. Und zugleich lässt es mich bekräftigen: Es gibt keinen Grund – keinen! –, rechtsextrem zu wählen.

Selbstverständlich: Nicht jeder Wähler, jede Wählerin rechtspopulistischer Parteien ist ein Nazi. Schlimm genug aber, dass 80 Prozent der Anhängerinnen und Anhänger der AfD erklären, es sei ihnen „egal“, dass die Partei in Teilen als rechtsextrem gilt. Egal geht schon lange nicht mehr! Ebensowenig wie die oft genannte Vermutung, wer rechtspopulistisch wähle, wolle damit vor allem protestieren, aufrütteln, die Regierung „abstrafen“ ... Oder zu beschwichtigen, dass es halt überall rechte Tendenzen gebe, dass es so schlimm schon nicht kommen werde, dass man Extremisten bestimmt „entzaubern“ werde... Wer so redet, unterschätzt die Gefahr. Der Grat – siehe oben – ist zu schmal, um auch nur einen Millimeter zu wackeln.

Nach dem Wahltag drängen sich weitere Fragen auf: Haben die eindrucksvollen Demonstrationen „gegen rechts“ (vgl. CIG Nr. 5) nichts bewirkt? Ebenso wie die Erklärung der deutschen Bischöfe, wonach völkischer Nationalismus und Christentum unvereinbar sind? Hat all das bei manchen zu einer Trotzhaltung geführt? Oder wäre es andernfalls noch schlimmer gekommen?

Ein eigener Blick ist auf das Wahlverhalten junger Menschen zu werfen. Auch sie haben überraschend stark AfD und Co. gewählt. Außerdem hat fast jeder und jede Dritte für eine der vielen Kleinstparteien gestimmt. Hat das „nur“ mit der nachlassenden Bindekraft der etablierten Institutionen zu tun? Oder damit, dass wir den Jüngeren zu wenig vermitteln, wie wichtig es ist, auch jenseits des Klimathemas eine Politik für alle möglich zu machen?

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