EuropawahlEnttäuschte Erwartungen

Nach der Europawahl monieren viele die vermeintlich mangelnde politische Bildung unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Dabei offenbart ihr Wahlverhalten demokratischen Willen.

Die Ergebnisse der Europawahl mochten vielen nicht schmecken, die eben noch euphorisiert Werbung für den Urnengang gemacht hatten. Besonders Grüne und Sozialdemokraten mussten Federn lassen – auch unter den Erst- und Jungwählern. Schnell war der warnende Hinweis zu hören, die politische Bildung habe die Jugend nur unzureichend erreicht. Dabei hatte das progessive Lager eigens darauf hingearbeitet, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken, da die Jugend eine aktive, engagierte und besonders informierte sei. Das trifft auch zu. Nur diese Beobachtung in erwartete Wahlergebnisse umdeuten zu wollen, zeugte von einer erstaunlichen Naivität.

Denn wie hat „die Jugend“ eigentlich gewählt? Interessant ist nicht so sehr, dass 16 Prozent der Erstwähler ihre Stimme der AfD gaben: Damit sind sie exakt im deutschen Durchschnitt und hier eben ein Querschnitt der Gesellschaft. Interessant ist auch nicht, dass noch mehr die Union wählten und die Regierungsparteien meist ignorierten. Wirklich interessant sind die 28 Prozent, die ihre Kreuze kunterbunt bei Klein- und Kleinstparteien verteilten und damit signalisierten, dass sie verinnerlicht haben, was ihnen bei der Erklärung der Regierungsform Demokratie beigebracht wurde: Ihr allein habt die Wahl und könnt wählen, wen ihr wollt. Das Angebot ist umfangreich und plural, die Wahl frei und geheim: Ihr müsst euch vor niemandem als euch selbst dafür verantworten. Hier, bitteschön, ist das Ergebnis. Die Jugendlichen haben gewählt. Sie haben das in größtmöglicher Freiheit getan – deshalb die Vielfalt der Kreuze auf dem Wahlzettel. Dass das Ergebnis anders ausgefallen ist, als viele es erwartet hatten, ist allein das Problem der fehlerhaften Auguren.

Es gibt in der Demokratie keine „falsche Wahl“. Es gibt schlechte Wahlentscheidungen, es mag naive und geradewegs dumme Wahlentscheidungen geben und auch deren schlimme Konsequenzen, aber das Wahlergebnis ist niemals „falsch“, es sei denn, es liegt Manipulation vor. Einem Erstwähler zu bedeuten, er habe „falsch“ gewählt, ist der sicherste Weg, einen Menschen für die Demokratie zu verlieren. Der Fehler der enttäuschten Jugendversteher lag offenbar darin, dass sie einer gesellschaftlichen Gruppe pauschal eine erwartete weltanschauliche Meinung angedichtet hatten. So etwas kann nur schiefgehen und hat mit Demokratie nichts zu tun, sondern nur mit Wahrsagerei.

Übertragen wir den Gedanken auf andere Lebensbereiche, so folgt der Schluss: Die so oft beklagte gesellschaftliche Spaltung geht von fest definierten Gruppen aus, die vermeintlich vorhersehbaren Weltanschauungen und damit Wahlentscheidungen folgen. Erfreulich, dass die Gruppen mitunter das Gegenteil des Erwarteten produzieren. Vielleicht sind die Lager gar nicht so fest definiert in „Progressive“ und „Konservative“. Vielleicht hat keine dieser Gruppen Lust darauf, dass für sie stellvertretend gesprochen und erwartet wird. Vielleicht sollten sich alle, die meinen, für eine „Seite“ zu sprechen, fragen, ob sie irgendjemand dazu legitimiert oder gewählt hat. Vielleicht lehrt dieser kurze Gedanke eine gewisse Demut, und die Überraschung ist nicht so groß, wenn sich Gruppen anders verhalten als erwartet. Vielleicht sind wir gar nicht so gepalten, wie oft beklagt wird. Vielleicht muss einfach öfters betont werden, dass sich die Demokratie keinen Deut um „Harmonie“ und „Erwartungen“ kümmert. Und dass das gut so ist.

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