Die vielen Krisen der Gegenwart setzen nicht nur in Frankreich die mühsam errungene freiheitlich-demokratische Grundordnung einem immer stärkeren Belastungsstress aus. Eine diffuse Angst vor Identitätsverlust, genährt auch durch eine immer geringere Kenntnis der eigenen Geschichte, verhindert eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine gute gemeinsame Zukunft zu gestalten wäre.
In Frankreich kommen spezifische Aspekte hinzu: Ein starkes Stadt-Land-Gefälle lässt das Gefühl zunehmen, in ländlichen Regionen abgehängt zu sein. Bestimmte Eigendynamiken verstärken den Eindruck, dass manche politischen und akademischen Diskurse abgehoben sind. Die von der Verfassung vorgesehene starke Stellung des Präsidenten, die durch das Temperament Emmanuel Macrons noch akzentuiert wird, macht die Wahlen zum Europaparlament und nun zur Nationalversammlung zu einer Abstimmung über seine Beliebtheit.
All das machen sich populistische Akteure zunutze. Sie müssen dafür nicht einmal Lösungen anbieten, sondern profitieren von der bloßen Anklage der Probleme. Dies ist in den letzten Jahren insbesondere der rechtsextremen und fremdenfeindlichen Partei Rassemblement national gelungen. Geschickt verbindet sie den Sündenbockmechanismus (am Pranger stehen vor allem Europa und die Migration) mit der subtilen Uminterpretation zentraler Begriffe, darunter auch dem der „Freiheit“, dem ersten des republikanischen Dreiklangs.
Das Ringen um den Begriff und die Sache der „Gleichheit“, den zweiten Teil des Dreiklangs, könnte im Mittelpunkt einer echten Diskussion stehen. Doch die Parteien, die sich zu Demokratie und Rechtsstaat bekennen, hat eine eigenartige Form von Visionslosigkeit ergriffen. Es gelingt ihnen nicht zu vermitteln, dass Versprechen von Populisten leer sind und die Werte der Republik unterhöhlen. Offensichtlich fehlt es den nichtpopulistischen Parteien auch an Kreativität, diese Werte neu mit Leben zu füllen. Gerade darin läge doch eine, wenn auch oft schwierigere Antwortperspektive auf die Sorgen der Menschen.
Freiheit, Gleichheit – Ungewissheit. So hat der Rechtspopulismusexperte Jan-Werner Müller vor einigen Jahren das Motto der Französischen Revolution abgewandelt. Mit republikanischer „Brüderlichkeit“ beziehungsweise Geschwisterlichkeit konsequent und konstruktiv auf die zeitgenössische Unsicherheit zu reagieren – wäre das nicht ein politisches Programm, dessen die Gesellschaft bedarf?
Und die Kirche? Sie ist in vielen Regionen immer weniger wahrnehmbar präsent. In gesellschaftlichen Diskursen ist die kirchliche Stimme leise geworden, dabei mehr und mehr dominiert von „tradismatischen“ bis traditionalistischen Tönen. Warum dies in den letzten Jahrzehnten auch durch hausgemachte kirchliche Entwicklungen so gekommen ist, dazu gäbe es viel zu sagen. Umso mehr lohnt es sich, an die Aussage von Papst Johannes Paul II. bei seinem Frankreichbesuch 1980 zu erinnern: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seien christliche Werte. Und die Enzyklika Fratelli tutti von Papst Franziskus stellt heraus, dass Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft der Weg in die Zukunft sind – lokal und regional, national und international.