Der Wunsch, das Heilige berühren zu können, ist so nachvollziehbar wie alt. Doch sollte der Reliquienkult nicht auf heutige Vorbilder gestülpt werden.
Im christlichen Mittelalter florierten das Pilgerwesen und der Handel mit Reliquien. Was die Heiligen auf dem Weg in den Himmel begleitet hatte – ihr Leib, ihr Hab und Gut –, sollte doch auch uns als Vorbild für ein gottgefälliges Leben dienlich sein. Die Überidentifikation von sterblicher Hülle und überirdischem Leben überzeugte in einem Weltbild, in dem Materie und Geist aufs Engste verbunden waren.
Es spricht gewiss nichts dagegen, auch heute noch an den Gräbern oder Wirkungsstätten vorbildlicher Menschen in Andacht zu verharren. Selbst Reliquienprozessionen lassen sich aus Achtung vor dem Glauben unserer Ahnen rechtfertigen. Es wäre falsch, Glaube als rein intellektuelle Leistung zu begreifen. Er hat immer auch eine materielle, leibliche Seite – das Maß zählt.
Irritieren muss indes, wenn ein magisches Reliquienverständnis geradewegs in unsere Zeit transportiert wird: bei Berührung Segen, bei Gebet Heilung. „Hunderte lassen sich mit Reliquie von Carlo Acutis segnen“, war dieser Tage zu lesen. Papst Franziskus hatte den als „Influencer Gottes“ bekannten Teenager vor vier Jahren in die Schar der Seligen aufgenommen. Nun wurde die Heiligsprechung des 2006 an Leukämie verstorbenen Jungen bekanntgegeben. Bei der Reliquie, die aktuell in Deutschland Station macht, handelt es sich um nichts Geringeres als das Herz von Carlo Acutis. Von einer „Tournee des Herzens“ schreibt die Süddeutsche Zeitung gar lyrisch. Der katholische Reliquienkult sei uralt, erfreue sich aber „immer noch einer großen Faszination“.
Einmal abgesehen davon, ob derartige Events über ein sehr spezifisches Milieu hinaus tatsächlich Anklang finden, stellt sich die drängende Frage, ob die Kirche diese „Faszination“ in einer durch Reformation, Aufklärung und das Wissen um die Missbräuchlichkeit kirchlicher Riten gegangenen Gesellschaft eigens bedienen sollte.
An der Heiligsprechung Carlo Acutis’ ist grundsätzlich nichts Falsches (außer vielleicht die Fixierung auf die obligatorischen Wunder). Es ist sinnvoll, jungen Menschen Glaubensvorbilder aus ihrem Lebensumfeld zu geben. Zu viele Heilige stammen aus ferner Zeit und waren eher verschrobene Sonderlinge. Das trifft auf den italienischen Jungen nicht zu: Er war Batman-Fan, soll sich rührend um Außenseiter in der Schule gekümmert und all seine Zeit und sein Taschengeld in die Verpflegung Obdachloser investiert haben. Ob sein digitales Eucharistie-Museum, das ihm den Titel eines „Internet-Apostels“ einbrachte, zu den dringensten Desideraten gehörte, sei dahingestellt.
In hohem Maße verstörend ist aber der Kult, der kirchlicherseits um den sicher vorbildhaften Teenager betrieben wird – unter Beteiligung seiner Familie. Die besagte Reliquie stammt eben nicht aus dem Mittelalter. Hier wurde der Leichnam eines 15-Jährigen ausgegraben und ohne forensische Notwendigkeit sein Herz aus dem verwesenden Fleisch geschnitten. Man muss das einmal so drastisch formulieren. Der Vorgang ist im 21. Jahrhundert nicht anders zu bezeichnen denn als Leichenfledderei.
Warum tut sich die Kirche so schwer, zeitgemäße Formen der Glaubensvermittlung zu finden? Warum nicht mit Jugendlichen Carlo-Acutis-Spaziergänge zu den Obdachlosen vor Ort unternehmen? Oder im Andenken an ihn täglich einen Kommentar gegen Hassnachrichten im Internet posten? Stattdessen manifestiert die Kirche einmal mehr ihr Beharren in längst überkommenen Denk- und Handlungsmustern.