Mit Hegel durch Rom“ – so könnte das Motto dieses Buches lauten, denn sein Autor, der Kölner Psychiater und Theologe Manfred Lütz, macht sich offenbar eine grundsätzliche Erkenntnis aus Hegels Phänomenologie des Geistes zu eigen: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“ Um Erkenntnis des vielen Menschen durchaus Bekannten, nämlich der Kunstdenkmäler Roms, geht es Lütz in seinem sehr eigenwilligen Rom-Buch: Ob Michelangelos Pietà in Sankt-Peter, Caravaggios „Berufung des Matthäus“ in San Luigi dei Francesi, Raffaels Stanzen im Vatikan oder die Grotesken in der Domus aurea – Manfred Lütz nimmt seine Leser mit durch den Kosmos Rom, und dabei sind seine Betrachtungen manchmal launig – wenn er das Deckenfresko der Brüder Carracci in der Galleria Farnese als „Kultivierung der Sinnlichkeit“ bezeichnet, „die den gefeierten Eros der Antike nicht den Bordellen überließ“–, manchmal spekulativ – wenn er sich vorstellt, was sich Luther und Michelangelo wohl zu sagen gehabt hätten, wenn sie sich 1511 in Rom begegnet wären –, und bisweilen auch in ihrer präzisen Lakonie völlig überzeugend: „Dass der Tod nicht das letzte Wort hat, kann man im milden, duldenden und liebenden Angesicht Marias (buchstäblich) sehen. Das glauben die Christen. Alles andere ist nebensächlich.“
Der Ansatz des Autors, in der großen römischen Kunst nichts Geringeres als den Sinn des Lebens aufzuspüren und deutlich zu machen, dass das Spüren und Erfahren eine weitaus tiefere und ergreifendere Dimension ist als das Betrachten und Erkennen – dieser Ansatz ist sympathisch und trägt den Leser eine Zeitlang durch dieses Buch, das alles andere als ein Touristenführer oder eine kunstgeschichtliche Abhandlung über Rom ist. Vielmehr ist es eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit 50 Jahren Rom-Erlebnis, ja bisweilen Glaubensbekenntnis angesichts überwältigender Schönheit. Aber darin liegt natürlich eine Crux: Denn in dieser Überwältigung muss der Gegensatz von Glauben und Wissen auf ein „tragisches Missverständnis“ reduziert werden, und die Welt wird aufgeteilt in die Christen und die anderen – wenn Lütz beispielsweise die Decke der Sixtina als Beweis anführt, „warum Rassismus und Antisemitismus für Christen absolut undenkbar sind“. Als Appell möchte man dies ja gelten lassen, aber wenn einige Seiten später Papst Pius XII. in der Gloriole des Retters der römischen Juden geschildert wird, kommt der Verdacht auf, dass die Schönheit der Kunst bisweilen auch blendet und für das Nachdenken über Geschichte blind macht.
Ein paar Superlative weniger und ein etwas nüchterner Blick auf die Wirklichkeit von über zwei Jahrtausenden römischer Kunst, in denen nicht immer alles ad maiorem Dei gloriam geschah, hätten diesem Buch durchaus gutgetan – oder neben Hegel und Dostojewski ein Seitenblick auf Nietzsche. Dessen Einsicht: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“, würde sich auch gut als Motto römischer Flanerien machen, denn die Wahrheit über das, was sich in den vergangenen Jahrhunderten in Rom zutrug – oft mit dem Segen der Kirche –, ist nicht immer so erbaulich! Aber das Beste kommt zum Schluss und versöhnt den Leser mit Lütz’ Neigung, historische Reflexion durch Begeisterung zum Schweigen zu bringen: Die Frage bliebe, ob das Rom-Erlebnis glückhafter Ewigkeit eine Illusion sei – „oder ob wir diesem tiefen Gefühl von Ewigkeit, das uns im Kunsterlebnis ergreifen kann, Wirklichkeit zutrauen. Diese Frage zu beantworten hat jeder Mensch ein Leben lang Zeit. Nicht länger.“ Eine Reise nach Rom mit Manfred Lütz’ Buch im Gepäck kann helfen, der Antwort näher zu kommen.