Verurteilung im Fall Irmgard F.Mehr als nur Symbolik

Ein Gericht verurteilt eine 99-jährige ehemalige KZ-Sekretärin. Was wie ein reines Symbol wirkt, ist Ausdruck eines Rechtsempfindens, in dem die Zeit eben nicht einfach alle Wunden heilt.

Die gebrechliche alte Frau erschien nicht im Gerichtssaal. Irmgard F. ist heute 99 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl; erwartungsgemäß ließ sie sich vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Leipzig vertreten. So konnten die Prozessbeobachter nichts über die Reaktion der alten Frau schreiben, als das Urteil des Landesgerichts Itzehoe von 2022, gegen das sie Revision eingelegt hatte, bestätigt wurde. Ihr drohen nun zwei Jahre Gefängnis, ausgesetzt auf Bewährung. Sie wurde nach Jugendstrafrecht verurteilt, denn zum Tatzeitpunkt war sie 18 Jahre alt. Die Anklage freilich ist monströs: Irmgard F. wurde verurteilt wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10000 Fällen sowie wegen Beihilfe zum versuchten Mord in fünf Fällen. Unvorstellbare Taten.

Vor fast 80 Jahren war F. Sekretärin des Lagerkommandanten im Konzentrationslager Stutthof. Stutthof lag etwas mehr als 30 Kilometer östlich von Danzig. Neueren Schätzungen zufolge kamen in Stutthof mindestens 65000 Menschen um. An diesem Ort also arbeitete die junge Irmgard; ein Großteil der Bürokratie des Lagers ging über ihren Schreibtisch. Der BGH sah es als erwiesen an, dass sie damit dezidierten Einblick in die Vorgänge im Lager hatte. Sie bearbeitete auch Exekutionsbefehle, wusste nach Ansicht des Gerichts, was vor sich ging. Sie hatte damit also keinen „normalen“ Job, wie die Verteidigung stets argumentiert hatte. Auch hatte sie niemand zu dieser Arbeit gezwungen.

Dazwischen liegen 80 Jahre, ein ganzes Leben. Viele werden fragen, was es denn noch bringen soll, eine alte Dame zu verurteilen, die ohnehin nicht mehr lange leben wird. Und dann auch noch mit einem so bizarr anmutenden Urteil nach Jugendstrafrecht, das sie in der NS-Zeit nicht hätte genießen können. Kann das den Opfern und deren Nachkommen Genugtuung verschaffen? Oder sollte man der Angeklagten die Illusion lassen, sie sei im Recht?

Wie wirkt Gerechtigkeit?

Diese Argumentation verkennt, wie Gerechtigkeit wirkt. Sie ist keine Folge von Vergebung, Verzeihung oder schlimmstenfalls schlichtem Vergessen, sie ist deren Voraussetzung. Auch im theologischen Sinne kann es bei Gott keine Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit geben. Eine Gesellschaft, die von der Verurteilung einer 99-Jährigen objektiv gesehen nichts hat, muss dennoch danach streben, dass in ihr Gerechtigkeit herrscht, wenn auch spät und erkennbar unvollkommen. Selbst wenn das Urteil rein symbolisch anmutet, ist es das gerade nicht. Es ist der leicht surreal wirkende Versuch, dem monströsen Verbrechen ein rationales, menschenwürdiges Gerichtsverfahren gegenüberzustellen; theologisch gesprochen: Ordnung gegen das Chaos aufzubieten. Gerechtigkeit ist hierbei Handlungsmaxime und Ziel.

Dass Gerechtigkeit für Millionen Ermordete nicht wiederhergestellt werden kann, ist allen Beteiligten klar. Aber das ist kein Grund, nicht nach ihr zu streben. Es geht auch nicht darum, dass die Opfer und deren Nachkommen nun den Tätern verzeihen sollen oder können. Dazu kann sie niemand zwingen. Es ist der Versuch, wenigstens das immer noch Mögliche zu tun, damit die Opfer und ihre Nachkommen etwas von den Bildern in der Nacht entlastet werden. Zudem ist Gerechtigkeit ein Wert an sich, auch ohne dass irgendjemand Nutzen daraus zieht. Dass dafür eine alte Frau auf ihre letzten Tage mit der Scham konfrontiert wird, ein Leben in Lüge gelebt zu haben, und vielleicht nun selbst schlechter schläft, ist verschmerzbar.

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