Der Erlösungsreligion Christentum entspricht kein Bedürfnis mehr. Sie wird spannungslos. Sie wird ein Verein zur Verbreitung von Lebenszuversicht“, schrieb der Philosoph Kurt Flasch in seinem 2013 erschienenen Buch Warum ich kein Christ bin. Wie schnell solche Aussagen von der Wirklichkeit überholt werden, zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre, nämlich eine Pandemie und ein bedrohlicher Krieg quasi „vor der Haustür“ – also die Erfahrung des Einbruchs unvorhersehbarer Entwicklungen in einen scheinbar kontrollierbaren Alltag: Das führt bei vielen Menschen zu tiefer Verunsicherung, welche die Erlösungsbedürftigkeit in einem neuen Licht erscheinen lässt. Das jüngst auf Deutsch erschienene Buch Gott des italienischen Philosophen Stefano Levi Della Torre ist in seiner radikalen Auseinandersetzung mit der Transzendenz nicht weniger radikal als Kurt Flaschs Manifest – und gleichzeitig verschiebt der Autor die Gottesfrage nicht einfach in eine voraufgeklärte Zeit und erklärt Religion zur Wohlfühlinstanz; vielmehr verortet Levi Della Torre die Gottesfrage und die Antworten der Religion(en) im Zentrum aufgeklärten Denkens, als dessen beständige Herausforderung. Die Gottesfrage sei „die Frage danach, welchen Begriff wir uns vom Universum, von der Natur, von der Geschichte, vom umgreifenden Sinn des Ganzen und seinen Grenzen und schließlich auch von uns selbst machen“.
Stefano Levi Della Torres Auseinandersetzung mit der monotheistischen Gottesidee nimmt diese in ihrem unbedingten Anspruch ernst – wenn er sie beispielsweise gleich zu Beginn als „kopernikanisch“ bezeichnet: „Das menschliche Dasein und die Welt stehen nicht im Mittelpunkt, sondern sind vielmehr dezentriert und kreisen um eine andere Größe, nämlich Gott.“ Und immer wieder kommt er auf die biblischen Grundlagen zu sprechen, wobei er seine Leser mit einer radikal neuen Deutung des Vertrauten konfrontiert. Ebenbildlichkeit bestehe eben darin, dass sowohl Adam als auch Gott in der Lage sind, „Ich“ zu sagen: Adam nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis (vgl. Gen 3,10) und Jahwe in dem Moment, als er Moses das erste Gebot verkündet (vgl. Ex 20,2). Das „Ich“ (hebr. anokhì) sei also der eigentliche Beginn der Schöpfung: In dem Moment nämlich, wo Mensch und Gott ihre geschichtliche Existenz beginnen – Adam als aus dem Paradies Vertriebener und Jahwe als in der Geschichte des Volkes Israel Handelnder.
Ebenbildlichkeit besteht
eben darin, dass sowohl
Adam als auch Gott in der
Lage sind, „Ich“ zu sagen.
Die Selbsterkenntnis
ermöglicht Dialog, sie ist
der eigentliche Beginn
der Schöpfung.
Für Stefano Levi Della Torre folgt aus dieser Eben- oder besser Spiegelbildlichkeit geradezu zwangsläufig, dass Gott sich als Mensch offenbart: „Aber diese Offenbarung des Göttlichen in Menschengestalt gehört zu allen Religionen, die seit Urzeiten das Göttliche in Menschen- oder Tiergestalt vergegenwärtigen (in Ägypten, Griechenland und Indien ebenso wie in den Kulturen Afrikas oder Amerikas).“ Interessant ist die Beobachtung des Autors, dass den Christen selbst die Idee einer Inkarnation des Göttlichen offenbar als sehr gewagt erschien; Lehren von Jungfrauengeburt, unbefleckter Empfängnis oder leiblicher Aufnahme in den Himmel seien so gesehen als Einhegung dieser Radikalität zu sehen, über die schon der Nestorianismus in Konflikt mit der frühen Kirche geraten ist. Wer solchermaßen an den Dogmen Kritik übt, zieht den Vorwurf des Relativismus auf sich – dies war ein Lieblingsargument des Theologen Ratzinger, der darin die Folge eines angeblich schrankenlosen Subjektivismus in der Moderne sah. Levi Della Torre greift dies scheinbar zustimmend auf, freilich nicht wie der vormalige Papst, um das Dogma zu stützen: „Fälschlicherweise gelten Dogmatismus und Relativismus als Gegensätze, denn beide praktizieren eine Ontologie des Deutungsaktes“ – es laufe letztlich auf dasselbe hinaus, ob sich das deutende Subjekt selbst ermächtige oder seine Autorität aus einer nicht zu hinterfragenden Institution ableite.
Diesem „Triumph einer objektlosen Subjektivität“ hält Stefano Levi Della Torre die Dialektik von Glauben und Erkennen entgegen: „Unser Erkennen ist eine Bewegung, die von einem anfänglichen Glauben an das Denkmögliche und an die Botschaft der Sinne ausgeht und gerichtet ist auf ein hypothetisches Glauben an einen Sinnhorizont, der, wenn er nicht Gottesglaube, eine Glaubenserwartung an die Sinnhaftigkeit des Erkennens ist.“ Letztlich geht es dem Autor um die Kritik der unseligen Trennung zwischen Glauben und Wissen, bei der Letzteres zum Verstand, Ersterer zum Herzen spreche. Freilich nicht im Sinne einer Identifikation beider, sondern in der Aufhebung dieses Gegensatzes durch den Wahrheitsanspruch: Wahrheit könne nur „eine in Worte gefasste und mit Sinn ausgestattete Wirklichkeit“ sein – wobei die Kunst bisweilen als Vermittlungsinstanz fungiere, zum Beispiel durch die Lichtgebung in Caravaggios Bildern, wo er „das Natürliche wie ein Wunder malte, das Erkennen als Offenbarung“.
Widerspricht dies nicht der kirchlichen Lehre von der Sündhaftigkeit des Essens vom Baum der Erkenntnis? Statt sich auf die Logik eines Katechismus einzulassen, zitiert Stefano Levi Della Torre eine interessante Passage aus der Mischna, einer der wichtigsten Sammlungen religionsgesetzlicher Überlieferungen des Judentums: „Bedenken wir, dass in der Genesis vom Menschen nicht gesagt wird, dass Gott sah, dass er das vollkommenste aller Lebewesen sei.“ Des Menschen Vollkommenheit liege „in dem fortwährenden Übergang von der Möglichkeit zur Tat“. Diese fast faustische Bestimmung öffnet zweifellos den Horizont für Größtes – und Schreckliches; und sie rückt die Gottesfrage als Frage nach dem Sinn des Tuns gerade dann wieder in den Vordergrund, wenn sie der Mensch angesichts seiner schier unendlichen Handlungsmöglichkeiten aus den Augen verliert. Freilich bekommt in einer Welt, in der Effizienz und Funktionalität das Denken und Handeln bestimmen, Gott sehr schnell eine Funktion: als Kausalnexus, als Idee mit konkreter Wirkung in der Geschichte, als Gegenüber, von dem wir uns wünschen, in seiner Fürsorge zu leben – kurzum: als Gott, den wir kennen. „Paradoxerweise gibt gerade die Menschengestalt dem Gott, den wir ,kennen', seine Autonomie zurück und befreit ihn von der Festlegung auf das Nützliche und Funktionale“, unterstreicht Stefano Levi Della Torre gegen Ende seines Buchs, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass der Tod dieses Gottes in Menschengestalt am Kreuz offenbar nur durch den Gedanken der Erlösung katalysiert werden kann, der wiederum aus dem Dogma von Schuld und Erbsünde hervorgeht.
Da ist sie wieder, die altbekannte Frage nach der Erlösung. „Aber was ist religiöse Rettung? Erlöst wovon?“, fragt auch Levi Della Torre und verweist auf „die Grundbedingungen unserer Existenz, von denen wir uns ins Zeitlose gerettet wünschen“ – nämlich durch Religion, welche das dunkle Chaos unendlicher Möglichkeiten durch Rituale, Formen, Figuren, Mythen, Gesetze, Begriffe und Liturgie bändige. Und dann kommt ganz am Schluss des Buchs ein Gedanke, der die Auseinandersetzung mit Gott hinter sich lässt und das gleichnamige Buch zu einer scharfsinnigen Zeitdiagnose werden lässt: Der Geltungsverlust der Religion bewirkt eine untergründige Wiederbelebung der Empfänglichkeit für die Bedrohungen des dunklen Chaos, „eine Beunruhigung über den Kontrollverlust ebenso wie einen Kontrollzwang“. Dies sei die Stunde derer, die das Meinen an die Stelle des Wissens stellen und die Verschwörungstheorie an die Stelle der Hoffnung.
Nichts liegt Stefano Levi Della Torre ferner, als in der Religion das Sedativ einer aufgewühlten und empörten Gesellschaft zu sehen – denn nicht Glaubensformeln helfen gegen die Zumutungen des Unbegreiflichen, sondern die Fragen, die sich aus der Beschäftigung mit Gott und der Religion ergeben.
„Die wahrhaft bewegenden Fragen sind jene, die das Offensichtliche und längst Geklärte aufs Spiel setzen: Die Fragen entspringen nicht aus früheren Fragen, sondern entstehen aus bereits gegebenen Antworten.“