Es sind die Augen, die einen nicht mehr loslassen. Alles beginnt mit einer alltäglichen Szene: Ein Vater und sein Sohn besuchen die kranke Mutter in einem Sanatorium. „Sprich mal mit ihr“, ermutigt der Vater. Der Teenager-Sohn blockt erst ab: „Warum? Sie versteht es doch sowieso nicht.“ Schließlich nähert er sich doch seiner Mutter, die reglos auf dem Bett sitzt. Als die seine Anwesenheit spürt, dreht sie sich zu ihrem Sohn um und sieht ihn an. Mit menschlichen Augen in einem von dichtem Fell umwucherten Gesicht, das eindeutig nicht mehr menschlich ist. Regisseur Thomas Cailley findet ausdrucksstarke Bilder für ein sensibles Thema. Wie gehen wir um mit Menschen, die Stück für Stück all das verlieren, was sie einst ausgemacht hat?
In dem Film wird das wörtlich genommen – eine neuartige Erkrankung verwandelt die Betroffenen in seltsame Mischwesen aus Mensch und Tier. Ein düsterer, schleichender Prozess, der wohl nicht zufällig an Stadien einer Demenzerkrankung erinnert: Anfangs können die Patienten ihre Ausfälle noch verstecken, dann verlernen sie einfachste Alltagsaufgaben und schließlich auch das Sprechen. Einmal ausgebrochen, lässt sich die Krankheit nicht mehr aufhalten, wie Émile (gespielt von Paul Kircher), der störrische Teenager vom Anfang des Films am eigenen Leib erfährt. Während sich seine Mutter mehr und mehr in eine Bärin verwandelt, beginnt auch sein Körper sich zu verändern. Erst steigern sich sein Geruchssinn und Gehör, dann wachsen plötzlich Wolfskrallen aus seinen Fingernägeln.
Darf man einen solchen Film machen? Verbietet es sich nicht von selbst, von kranken Menschen als Tieren zu denken? Zumal die Parallelen sehr direkt gezogen werden, wenn Émiles Mitschülerin die frühen Stadien der Erkrankung mit ihrem ADHS-Leiden vergleicht. Doch wer sich auf das Gedankenspiel einlässt, kann einen melancholischen und zutiefst einfühlsamen Film erleben. Entscheidend ist, dass die Hybridwesen nie zu Gruselgestalten gemacht werden. Die verschiedenen Stadien der Verwandlung werden stattdessen mit der Faszination einer guten Natur-Dokumentation eingefangen. Und immer wieder fokussiert die Kamera auf die Augen – wie als Hinweis, dass die Seele weiterlebt, auch wenn der Körper irgendwann nicht mehr wiederzuerkennen ist. Die wahren Monster des Films sind die gewöhnlichen Menschen, die die Erkrankten mehr schlecht als recht medizinisch ruhigstellen. In einer Szene zeigt ein Vogel-Mann sein deformiertes Gesicht, das nicht durch die Krankheit, sondern durch plastische Chirurgie entstellt wurde. Durch den Versuch, ihn mit allen Mitteln wieder „normal“ zu machen. Andere Menschen machen gar Jagd auf Mischwesen, die es geschafft haben, aus den Kliniken zu entkommen. Tagsüber durchforsten die Jäger mit Gewehren und Tierpfeifen den Wald, abends veranstalten sie wahre Grillorgien mit Unmengen von billigen Supermarkt-Steaks.
Eine eindrucksvolle Ausnahme bildet hier Émiles Vater François (Romain Duris), eine der so seltenen wie willkommenen positiven Vaterrollen. Mit seinem mageren Einkommen als Koch tut er alles, um seinem Sohn und seiner kranken Frau gerecht zu werden. Als herauskommt, dass auch sie aus der Klinik geflohen ist, irrt er auf der Suche nach ihr nächtelang durch den Wald. „Wie war es, als Mama angefangen hat, sich zu verändern?“, fragt Émile, als er selbst schon weiß, dass auch er die Krankheit in sich trägt. „Das war immer noch sie“, antwortet der Vater. „Das hat gar nichts geändert.“
Schließlich ist es Émile, der seine Mutter im Wald findet. Sie hat inzwischen alles Menschliche abgelegt, nur ihre Augen erinnern noch an die Frau, die sie einmal war. In einer kurzen, ergreifenden Szene, die Wiedersehen und Abschied in einem ist, erkennen sich Mutter und Sohn. Dann dreht sich die Bärin um und verschwindet zwischen den Bäumen. Geht ihrem erkrankten Sohn voraus – in eine Welt, die vielleicht besser und ziemlich sicher menschlicher ist.
ANIMALIA
Frankreich 2023; Regie: Thomas Cailley; Länge: ca. 130 Min.
Der Film ist aktuell im Kino zu sehen.