Für alle Zeiten seien alle Konklaveakten unter Verschluss zu halten, bestimmte Johannes Paul II. 2005. Was ihn dazu bewog, bleibt rätselhaft. Dass dieser Umgang mit Tradition und Vergangenheit indes völlig inakzeptabel ist, daran lässt der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf keinen Zweifel: „Amnesie gehört nicht zu den Eigenschaften Adonais und nicht zu denen seiner Gläubigen.“ Nun sind die Akten über die Konklaven sicher nicht die heikelsten in den Archiven des Vatikan; brisant an ihnen ist lediglich, dass das, was man für ewig halten könnte – oder zumindest für fast 2000 Jahre alt –, im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder einem starken Wandel unterworfen war.
Brisant ist dies insofern, als sich das Selbstverständnis der katholischen Kirche bei jedem Reformansatz oft auf den Satz „Es war schon immer so!“ zurückzieht. Hubert Wolf zeigt, dass dem de facto keinesfalls so ist und war. Weder der Primat des Papstes oder die Privilegien von Bischöfen und Priestern noch der Ausschluss von Frauen aus der Ämterstruktur oder die Praxis der Sündenvergebung – um nur einige Beispiele zu nennen – waren immer schon so. Ausgerechnet Papst Pius XII., dem man eher eine große Nähe zur Idee einer unwandelbaren Tradition unterstellen würde, schrieb im November 1947, „dass die Kirche Bestimmungen, die sie getroffen hat, auch abändern oder aufheben kann“. Er war eben eher Diplomat als Dogmatiker, und es verwundert nicht, dass die ersten drei Kapitel diesem – neben Pius IX. – sicherlich umstrittensten Papst der jüngeren Geschichte gewidmet sind.
Hubert Wolf wäre nicht der versierte Kirchenhistoriker, der er ist, wenn er sich auf das wenig erkenntnisfördernde Geplänkel zwischen Anklage und Verteidigung dieses Papstes und seines Verhaltens während der NS-Zeit einlassen würde. Stattdessen hält er nach akribischer Durchsicht der seit 2020 zugänglichen Akten fest: „Pius’ XII. ‚Schweigen‘ beruht nicht auf Nichtwissen.“ Als Hauptmotiv macht Wolf die Tatsache aus, dass sich der Papst durch sein diplomatisches Lavieren selbst blockiert habe: „Durch sein Schweigen 1940/41 zum Genozid an den Polen hatte er sich 1942/43, als es um die Schoah ging, in eine Sackgasse hineinmanövriert. Niemand – vor allem kein Katholik in Polen – hätte verstanden, wenn er für die Juden das tat, was er für die katholischen Polen nicht getan hatte.“
Wissend, dass der Historiker kein Richter ist, belässt es Hubert Wolf bei diesen nüchternen Feststellungen. Genauso wenig, wie es ihm um Anklage geht, geht es ihm um Verurteilung – sondern darum, was sich aus dem Studium der Archive für das Selbstverständnis der Kirche ergibt. Und deshalb interessiert er sich insbesondere für die Themen, bei denen diese in einen praktisch unüberbrückbaren Gegensatz zur „Welt“ geraten ist – wie beispielsweise in ihrem Bestreben, das Wissen zu kontrollieren und bestimmte Bücher zu verbieten, oder bei der Dogmatisierung der Ehelosigkeit der Priester. Dabei kommt der Autor immer wieder zu Erkenntnissen, die diejenigen enttäuschen werden, welche in der fast 2000 Jahre alten katholischen Kirche lediglich ein permanentes Hemmnis des Fortschritts und eine längst überkommene Institution sehen. Die Kontrolle des Wissens habe nämlich auch dazu geführt, dass das frühneuzeitliche Interesse an Naturphänomenen (Naturwissenschaft im heutigen Sinne gibt es ja erst seit dem 19. Jahrhundert) von pseudowissenschaftlichen Aktivitäten wie Alchimie oder Geomantie getrennt wurde: „So paradox es auch klingen mag: Die katholische Kirche hat zu einer indirekten Förderung des naturwissenschaftlichen Fortschrittes beigetragen“, stellt Hubert Wolf nach einer ausführlichen Beschäftigung mit dem Fall Galileo Galilei fest.
Galileis Inquisitor Robert Bellarmin hatte diesen ermahnt, die Wirklichkeit des geozentrischen Weltbildes auf keinen Fall in Frage zu stellen. Wenn er indes die kopernikanische Lehre lediglich als fiktive astronomische Hypothese vertrete, um beispielsweise Seeleuten nachts auf dem Meer eine Orientierungshilfe an die Hand zu geben, dann sei das auch mit der katholischen Lehre vereinbar. Dies ist ein schönes Beispiel für die bewusste Ambiguität scheinbar eindeutiger Aussagen der Kirche, die es ihr immer wieder erlaubt haben, mit „der Welt“ Kompromisse zu schließen. Allerdings musste dies spätestens dann scheitern, als Pius IX. mit seinem Unfehlbarkeitswahn und seiner nachgerade obsessiven Fixierung auf das Papstamt 1870 jegliches Gespür für den gesellschaftlichen Wandel der Moderne verlor. Es bleibt den Lesern überlassen, ob sie sich von dem Mut eines Ignaz von Döllinger beeindrucken lassen, der dies nicht akzeptieren wollte und konnte – oder von der Unterwürfigkeit des Rottenburger Bischofs Carl Joseph von Hefele, der „um des kirchlichen Friedens und der Einheit der Kirche willen“ bereit war, auch noch die größte Absurdität aus dem Vatikan zu akzeptieren. Einmal mehr verzichtet Wolf auf jeden Kommentar, aber es ist offenkundig, dass jede Reformbemühung „um der Einheit der Kirche willen“ abgewürgt werden konnte und kann.
An anderer Stelle wird der Autor umso deutlicher: Unter der Überschrift Zurück zur Urform, vorwärts zur neuen Form erläutert Hubert Wolf die theologischen Grundannahmen der kirchengeschichtlichen Forschung und dass Inkulturation und Transformation seit den frühen Tagen der Kirche zu ihrem Selbstverständnis gehört haben. Die vierte seiner Grundannahmen lautet: „Einen Einheitskatholizismus hat es in der Geschichte der Kirche nie gegeben und kann es auch prinzipiell nicht geben. Denn Katholizität impliziert schon rein etymologisch betrachtet Pluriformität. Das, was man heute als die ewige römisch-katholische Kirche kennt, ist im Grunde eine ‚Erfindung‘ des neunzehnten Jahrhunderts.“
In seiner jüngsten Studie greift Hubert Wolf zahlreiche Themen auf, denen er bereits in der Vergangenheit eigene Bücher gewidmet hat – und so versteht er Die geheimen Archive des Vatikan und was sie über die Kirche verraten als eine „erste Summe“ seiner Forschungen in den vatikanischen und vielen anderen Archiven. Frei von Polemik und immer mit dem nüchternen Blick des Historikers zeigt er, wann welche Chancen vertan wurden; oder welche Wege beschritten wurden, um die Kirche um jeden Preis vor Kritik zu schützen. Kritische kirchenhistorische Forschung sei indes unabdingbar für die Gesellschaft wie für die Kirche selbst – nicht zuletzt, weil an ihr eine wichtige Erkenntnis deutlich werde, die Hubert Wolf am Schluss seines Buches formuliert: „Man kann aus der Geschichte lernen, wenn man dazu bereit ist.“