Autobiographien haben ihre Tücken. In der Regel werden die ersten Jahrzehnte eindringlich geschildert – steil ist der Weg nach oben! –, woraufhin der Spannungsbogen abfällt. Der Exeget Gerhard Lohfink (1934–2024) war sich dieser Unwucht bewusst, setzte deshalb auf einen Lebensrückblick, in dem sich Biographisches und Theologisches wirkungsvoll verschränken. Es geht um das Hineinwachsen in den Glauben und die universitäre Laufbahn eines jungen Katholiken aus Frankfurt am Main, zugleich um theologische Diskurse, etwa über die Ursünde oder den Glauben an den dreieinen Gott, die ihn zeitlebens bewegten.
Der Bericht setzt mit der – biographisch gewendeten – Gottesfrage ein. Die Antwort verweist auf die vielfältigen Begegnungen mit gläubigen Christen, die alle Fundamente schufen. Zeitlich führt das den Leser in die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft wie in die anschließenden zwei Jahrzehnte: in eine Epoche, in der die katholische Kirche, in Ansätzen zumindest, für eine Kontrastgesellschaft einstand, und dabei mit vielen Kaplänen wie mit einer breitgefächerten Jugendbewegung punkten konnte. Die Entscheidung für den Priesterberuf war dann nicht wirklich überraschend – zumal der Bruder bereits in den Jesuitenorden eingetreten war. Nach dem Studium der Philosophie („Der christliche Glaube steht nicht gegen die Vernunft. Er ringt um sie“) und Theologie, nach der Priesterweihe in Limburg arbeitete Lohfink wenige Jahre in der gemeindlichen Seelsorge, bevor er sich einer Promotionsschrift widmen konnte. Das Thema – Die Himmelfahrt Jesu bei Lukas – führte ins Zentrum der beständigen Diskussion um Mythos und Historie der neutestamentlichen Texte, um Fragen nach Gattung und Textintention, zugleich um die Freiheit des Menschen angesichts des Handelns Gottes. Auf die Promotion folgte die Habilitation, die mit Die Sammlung Israels ebenfalls Lukanisches und Brisantes in den Blick nahm („Viele Christen haben ja keinerlei Verhältnis zu der Aussage, dass die Kirche Israel ist und bleibt“). An der Universität Tübingen ergab sich bald eine Professur für Neutestamentliche Theologie.
Ab dieser Stelle hätte Lohfinks Laufbahn, die neben fachspezifischen Studien vieldiskutierte populärwissenschaftliche Werke zeitigte, einem breiten, ruhigen Fluss ähneln können. Doch es sollte anders kommen. Die Frage „Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?“ führte nicht nur zu einer Publikation (1982), sondern forcierte auch eine intensive persönliche Suche, die den Exegeten immer mehr der „Katholischen Integrierten Gemeinde“ annäherte. In dieser Gemeinschaft suchte eine Schar von Christen unterschiedlichster Berufe ein engagiertes Leben in der Nachfolge Jesu. Im Blick auf seine erste Osternacht in dieser Gemeinde stellt Lohfink fest: „In meinen Vorlesungen hatte ich so oft vom ‚Volk Gottes‘ gesprochen und von dem, was ‚Gemeinde‘ ist – fast in allem reiner Theoretiker. Hier hatte ich es nun erlebt.“ 1986 schied der Exeget aus dem Universitätsdienst aus und schloss sich der „Integrierten Gemeinde“ an. Sie war jetzt seine „neue Familie“, der Ort, an dem Christsein, ob als Tischgemeinschaft oder „Mitverantwortung für den Glauben der Anderen“, ein Gesicht bekam.
Doch auch an dieser Stelle findet der Lebensbericht keine Abrundung. Nach Berichten über geistliche Manipulationen, auch finanzielle Abhängigkeiten, wurde 2020 die Münchner Gemeinde aufgelöst. Lohfink verzichtet darauf, diese Entwicklungen darzustellen, überlässt das Urteil den Historikern. Im Rahmen seines wertvollen Berichts über den Glauben und das Leben eines Christenmenschen ist dies eine überraschende und bedauerliche Lücke.