CHRIST IN DER GEGENWART: Warum ist das Jahr 1800 so signifikant, dass man sagen kann, hier beginnt etwas komplett Neues?
Jörg Ernesti: 1800 ist schon ein Einschnitt. Pius VI. (regierte 1775–1799) wird 1799 von den französischen Revolutionären nach Frankreich entführt, wird dort der gaffenden Menge vorgeführt, seiner päpstlichen Insignien und seines weißen Gewandes beraubt und vom Mob als „Pius der Letzte“ verspottet. Er starb relativ bald darauf. Tatsächlich hat man damals geglaubt, dass die Papstgeschichte mit ihm endet. Es war auch nicht selbstverständlich, dass im Jahr 1800 überhaupt ein Papst gewählt werden könne. Sein Nachfolger Pius VII. (1800–1823) war ein Kompromisskandidat, der sowohl den Österreichern wie auch den Franzosen als den beiden katholischen Großmächten genehm war. Er ist ein Diplomatenpapst, der die Wiederherstellung des Kirchenstaates in Wien aushandelt. Mit diesem Profil weist er auch in die Zukunft.
Gerade in Frankreich hatte man das Papsttum zu dem Zeitpunkt schon abgeschrieben. Man darf nicht vergessen, dass unter dem Wohlfahrtsausschuss der christliche Kalender getilgt worden war, dass in den Kathedralen kein christlicher Kult mehr gefeiert wurde, dass die Priester aus dem Amt gedrängt wurden, die Klöster geschlossen waren. Warum hätte da das Papsttum überleben sollen, wenn schon Napoleons Truppen in den Kirchenstaat eingerückt waren? Das Ende des Papsttums war schon eine sehr reale Möglichkeit. Dass es dennoch weitergeht, dass der Papst im späten 20. Jahrhundert mehrfach „Man of the year“ des Magazins Time wird, das hat man 1800 nicht ahnen können.
Was macht die Institution eigentlich dann so zäh?
Ich spreche von einer Neuerfindung des Papsttums durch das Papsttum. Es hat sehr geschickt bestimmte neue Elemente und neue Züge angenommen, etwa den Einsatz von Medien. Da könnte man vielleicht schon mit Pius IX. (1846–1878) anfangen, aber ganz sicher dann mit Leo XIII. (1878–1903). Die Reisetätigkeit, die stärkere internationale Ausrichtung, die Internationalisierung, die das Papsttum in den letzten 225 Jahren kennzeichnen. Die Rolle als theologischer und moralischer Lehrer. Die wird in diesem Zeitraum erst profiliert. Die erste Enzyklika wird kurz vor diesem Zeitraum veröffentlicht. Sie bekommt im 19. und 20. Jahrhundert eine unheimliche Bedeutung als das Medium, mit dem Päpste sich theologisch, politisch, moralisch zu den aktuellen Fragen äußern. Das ist vorher nicht so gewesen, dass der Papst als erster theologischer Lehrer der katholischen Christenheit große Enzykliken zu theologischen Fragen schreibt. Die Unfehlbarkeit und der Jurisdiktionsprimat von 1870 bauen diese Rolle als theologischer Lehrer noch mal aus.
Mit Pius IX. sind wir beim Unfehlbarkeitsdogma und beim Ersten Vatikanischen Konzil. Mich hat überrascht, dass es nicht abgeschlossen wurde. Was heißt das für seine Wirkungsgeschichte?
Die Päpste seit Pius IX. haben alle die Frage erwogen, ob sie das Konzil zu Ende führen. Noch Pius XII. (1939–1958) überlegt in den 40er-Jahren, als der Krieg vorbei ist, ob er das Erste Vatikanische Konzil weiterführt, und entscheidet sich dann aber dafür, den starken Akt des Dogmas von 1950, der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, anzusetzen. Erst Johannes XXIII. (1958–1963) hat sich genötigt gesehen, zu begründen, dass das Konzil, das er einberuft, nicht die Fortsetzung des Ersten Vatikanums ist.
Ist das Zweite Vatikanische Konzil wirklich der entscheidende Wendepunkt?
Das ist eine Frage, die die Fundamentaltheologie behandelt. Ich glaube, dass auf allen kirchlichen Gebieten ein riesiger Modernitätssprung mit dem Konzil vollzogen wird. Aber es hat andere Gründe gegeben. Pius X. (1903–1914) beispielsweise ist ein revolutionärer Papst, weil er das seelsorgerliche Element so stark in das Papsttum einbringt. Heute ist kaum noch ein Papst denkbar, der nicht vorher Leitungsserfahrung und pastorale Erfahrung gesammelt hat. Im Zweiten Vatikanum wird vieles ratifiziert und für die ganze Kirche verbindlich gemacht, was es vorher an Erneuerungsimpulsen schon gegeben hatte. Es ist nicht vom Himmel gefallen, sondern nimmt Erneuerungsbewegungen auf und macht sie für die ganze Kirche verbindlich.
Ist die Kirche, wie wir sie heute kennen, in diesem 19. und 20. Jahrhundert erst entstanden?
Es gibt die These, dass es geradezu zu einer Neuerfindung des Katholizismus kommt. Wenn man das annehmen wollte, dann müsste man aber meines Erachtens noch andere Strömungen mit einbeziehen, etwa die Diplomatenpäpste, die Medien oder die Reisetätigkeit der Päpste. All das gibt dem Papsttum ein neues Gesicht. Das ist anders als das, was man vorher kennt. Was hat ein Papst wie der Borgia-Papst Alexander VI. (1492–1503) noch gemein mit einem Papst Franziskus (seit 2013)?
Wenn man nüchtern Bilanz zieht angesichts der letzten 225 Jahre, wo steht das Papsttum heute?
Wir haben heute die starke Stellung des Papsttums als auch seine starke Wahrnehmung in der katholischen Öffentlichkeit, aber auch über die Kirche hinaus. Wir haben die Erwartung, dass der Papst sich in politischen Fragen äußert und in großen Krisen Stellung bezieht und beispielsweise in der Ukrainekrise als Friedensvermittler tätig wird. Wir haben sehr starke, charismatische, medienaffine, theologisch auch fast ausnahmslos versierte Persönlichkeiten an der Spitze der Kirche gehabt. Das macht mir auch ein bisschen Sorge, denn wer kann eigentlich auf Dauer all diesen Anforderungen genügen? Es hat gerade in der Barockzeit auch viele alte, kranke, schwache, wenig charismatische Päpste gegeben. Das Amt genügt nicht mehr, also wird die Kirche charismatische Führungspersönlichkeiten benötigen.
Welcher Papst der letzten 225 Jahre ist zu Unrecht ein bisschen in Vergessenheit geraten?
Ich bin ein großer Bewunderer Pauls VI. (1963–1978). Man darf den Papst nicht abschreiben mit Humanae Vitae, als sei danach nichts mehr gekommen. Paul VI. ist als sehr moderner Papst gestartet. Er ist im Grunde genommen derjenige gewesen, der das Konzil zu Ende geführt und die Liturgiereform umgesetzt hat. In der Krise nach 1968 hat er der Kirche noch viel an Anregungen und Hilfestellungen mitgegeben, die eigentlich bis in die Gegenwart fortwirken: die Bedeutung des Glaubenswissens, der Spiritualität, des Lebensschutzes, der Menschenwürde. Das sind im Grunde Anregungen, die bis heute noch tragen und weiterwirken.