Der Fall PelicotMagnificat 2.0

Ein Gerichtsprozess in Avignon hält die Welt in Atem: Denn das Opfer kämpft dafür, der Welt zu zeigen, was ihr angetan wurde – und dreht damit alle Vorzeichen von Scham um. Ein Fall, in dem ein jahrtausendealter Hymnus nachklingt.

Die Welt blickt gegenwärtig wie gebannt auf den Prozess gegen den Franzosen Dominique Pelicot vor einem Gericht in Avignon. Zum einen ist das immense öffentliche Interesse auf die entsetzlichen Abgründe des Falles und des Angeklagten zurückzuführen: Über Jahre hinweg hat er seine damalige Ehefrau, Gisèle Pelicot, betäubt, sich an ihr vergangen und sie im sediert-ohnmächtigen Zustand insgesamt mindestens 72 fremden Männern zum sexuellen Missbrauch ausgeliefert. Die Taten dokumentierte er akribisch mit einer Videokamera.

Zum anderen zeigt sich die Weltöffentlichkeit jedoch auch zutiefst fasziniert vom starken und mutigen Auftreten von Gisèle Pelicot: Die 72-Jährige, die bislang ein Leben fernab der Öffentlichkeit geführt hat und zugleich so viel erleiden musste, hat sich im Zuge des Prozesses auf beeindruckende Weise aus ihrer Opferrolle befreien können. „Die Scham muss die Seiten wechseln“, verkündete sie und bestand explizit darauf, dass der komplette Prozess – inklusive der Tatvideos – unter den Augen der Öffentlichkeit stattfindet, durchaus unüblich für die Verhandlung von Sexualverbrechen. Pelicot ist es somit gelungen, Ohnmacht in Selbstermächtigung, Schwäche in Stärke zu verwandeln. Deshalb gilt sie schon jetzt unzähligen Frauen und allen voran Missbrauchsbetroffenen als heldinnenhaftes Vorbild.

Aus christlicher Perspektive lädt ihr Fall noch zu einer weiteren Leseweise ein, denn in Pelicots mutigem Kampf für Gerechtigkeit findet der prophetisch-revolutionäre Hymnus der Maria, das Magnificat, eine moderne Manifestation. Die Französin ist ein besonders prägnantes Beispiel dafür, dass die jahrtausendealte Heilszusage Gottes immer wieder aufs Neue lebendig, wirksam und sichtbar werden kann. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron/und er erhöht die Niedrigen.“ Diese Zeilen singt im Lukasevangelium (1,52) eine einfache junge Frau. Marias Worte zeugen von schwierigen Lebenserfahrungen. Die „Niedrigkeit“, von der sie berichtet, bedeutet wörtlich übersetzt „Erniedrigung“ und kann für verschiedene Erfahrungen stehen. Bezieht sie sich damit auf ihre Situation als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft oder als Jüdin im Römischen Reich? Spielt sie damit auf ihre verzweifelte Lage als unverheiratete Schwangere an – im Matthäusevangelium ist sogar von „Schande“ (1,19) die Rede? Oder ist Maria im Lauf ihres Lebens gar selbst Opfer von sexueller Gewalt geworden? Wir kennen die Antwort nicht. Wir wissen aber, dass Gott sie gerade in ihrer Erniedrigung und Ohnmacht gesehen, sie daraus befreit, gerettet und unvergleichlich erhöht hat.

Das Magnificat hat in den letzten zweitausend Jahren immer wieder im Leben zahlloser Frauen (und Männer) nachgehallt, ihnen Ermutigung gegeben und in ihnen die Hoffnung auf eine radikale Umkehrung der (Ohn-)Machtverhältnisse wachsen lassen. Es ist heute noch laut und deutlich im Kampf der Gisèle Pelicot zu vernehmen, die auch andere Betroffene ermutigt, ihr Recht einzufordern. Marias Leben war auch nach ihrer Erhöhung nicht ohne weitere Herausforderungen, Schmerzen und Verletzungserfahrungen, aber sie hat sich auf ihrem Weg doch immer von Gott und ihrer Bestimmung getragen gewusst. Hoffen wir, dass auch Gisèle Pelicot nach dem Prozess aufrecht und gestärkt durch ihr weiteres Leben gehen kann.

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