Pilgerin GottesEine ungewöhnliche Bekanntschaft

Wenn die Kleinsten die Größten in der Liebe Gottes sind: Ein neues Buch beleuchtet das Leben der Kleinen Schwester Magdeleine von Jesus.

Kleine Schwestern von Jesus in Ruanda 1975  (Foto: Hans Knapp/KNA)
Kleine Schwestern von Jesus in Ruanda 1975 (Foto: Hans Knapp/KNA)

Meistens ergeben sich Bekanntschaften zufällig. Manchmal aber lernt man jemanden mithilfe eines Buches kennen. Ein bisher unbekannter Mensch wird im Lauf der Lektüre zu einer mehr und mehr vertrauten Person, deren Bekanntschaft man nicht mehr missen möchte. So ist es mir beim Lesen des unlängst auf Deutsch erschienenen Lebensbildes der „Kleinen Schwester Magdeleine von Jesus“ gegangen. Viele Passagen des Buches sind unmittelbar anrührend, versetzen in eine heilsame Unruhe, wirken zugleich ermutigend und tröstlich. Vor allem aber stärken sie das Vertrauen in Gott.

Magdeleine Hutin (1898–1989), wenn überhaupt, dann nur dem Namen nach als Gründerin der Kleinen Schwestern Jesu bekannt, hatte ihrerseits einen guten Bekannten, der sie anspornte und inspirierte, und zwar ebenfalls anhand von Lektüre. So schreibt sie in einer schwierigen Phase ihres Lebens nach dem Ersten Weltkrieg: „Das einzige Licht in dieser trüben Zeit war die Lektüre der Biografie und der Schriften von Charles de Foucauld (1858–1916). Hier fand ich endlich alles, was ich erträumte: Leben nach dem Evangelium, völlige Armut, ein verborgenes Leben mitten unter vernachlässigten Bevölkerungsgruppen und vor allem: Liebe in Fülle.“ Magdeleine kommt zu einer Grundentscheidung für ihr Leben: „Ich bin ganz klein, ganz arm, ganz ängstlich im Grunde, aber ich glaube, dass der Herr mir große Dinge anvertraut hat und dass ich kühn sein muss, sehr kühn auf dem Weg der Liebe.“ Und folgert daraus für sich und ihre Schwestern: „Wie der Sauerteig im Mehl wollen wir mit den Menschen innig vermischt sein … Und wenn ich diese Kühnheit hatte, dann deshalb, weil wir in die Fußstapfen desjenigen treten, den wir ‚Kleiner Bruder Karl von Jesus‘ nennen. Er war es, der den Weg eröffnete, und es ist der Weg der Kirche heute.“

Das Buch Kleine Schwester und Pilgerin Gottes beschreibt den Lebensweg der Kleinen Schwester Magdeleine in zwei großen Etappen: In einem ersten Kapitel geht es um die Jahre 1936–1949, in denen die Gemeinschaft der Kleinen Schwestern gegründet wurde und ihren Platz in der Kirche fand. Das zweite Kapitel handelt von den Jahren 1950 bis zum Tod Magdeleines 1989. Diese Jahre nach ihrem Rücktritt als Generalverantwortliche an Weihnachten 1949 sind vor allem geprägt von einer intensiven Reisetätigkeit und zahlreichen Gründungen in der ganzen Welt. Beide Kapitel beginnen mit einer kurzen biografischen Einführung, der dann chronologisch geordnet die Selbstzeugnisse folgen, wobei es sich dabei weitgehend um Briefe handelt. Die meisten richten sich an René Voillaume, den Gründer der Kleinen Brüder, der für Magdeleine eine Art geistlicher Begleiter darstellte. Die Selbstzeugnisse werden immer wieder von kurzen Kommentaren begleitet, die helfen, den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Sprache der Kleinen Schwester Magdeleine ist vor allem in den persönlichen Briefen stets sehr direkt. Ohne Umschweife schildert sie zum Beispiel, wie die Klöster in Nazareth auf sie wirken: „Ich habe den Eindruck, dass man Angst davor hat, dass unsere Armut den Reichtum der anderen verurteilt. Die Pracht der Gebäude hier in Nazareth, wo Christus arm war, versetzt mich in Erstaunen. Ist es böse, das zu sagen? Ich weine beim Anblick der Stadt mit all ihren Ordensfestungen.“ Was das Gelübde der Armut betrifft, ist Magdeleine genauso kompromisslos wie die Heiligen von Assisi, Franziskus und Klara. Wie diese wendet sie sich unmittelbar an den Papst, damals Pius XII.: „Ich flehe Sie an, Heiligster Vater, lassen Sie nicht zu, dass uns in Rom die Freude verwehrt wird, die Armut Jesu nachzuahmen.“

Ähnlich wie Franziskus gehört Magdeleine zu den wenigen Ordensgründern, die zu ihren Lebzeiten die Leitungsverantwortung abgeben und auch bereit sind, an manchen nachfolgenden Entwicklungen zu leiden. Die Rastlosigkeit, die das Leben der Gründerin der Kleinen Schwestern kennzeichnet – sie selbst bezeichnet sich oft als Nomadin –, findet Parallelen im Leben der heiligen Hildegard von Bingen und im Leben der heiligen Teresa von Ávila. Wie die Erstgenannte im Mittelrheingebiet, so zieht Magdeleine in den 1940er-Jahren von Ort zu Ort durch Frankreich, um als „Wanderpredigerin“ nach Charles de Foucaulds Beispiel ihre eigene Intuition einer neuen Art von Ordensleben bekanntzumachen. „Es ist wirklich eine neue Form des kontemplativen Ordenslebens, ohne strenge Klausur, völlig eingewurzelt bei den Menschen. Wir müssen Neues aufbauen! Neues, das alt ist, nämlich das authentische Christentum der ersten Jünger Christi. Wir müssen das Evangelium Wort für Wort wiedergewinnen. Es ist zu schmerzhaft zu sehen, wie sehr es in Vergessenheit geraten ist. Deshalb müssen wir mit den ‚Sündern‘ zusammen sein, die in den meisten alten Formen christlichen Lebens und in den Orden nicht genug Liebe finden. Oft zeigt sie sich nur als Mitleid, ist nicht geschwisterlich genug. Es ist wichtig, dass sich Sünder ohne falsche Scham an unseren Tisch setzen können.“

Wie Teresa in Spanien eilt auch sie mit ihrer Reformidee von Gründung zu Gründung durch die ganze Welt. Angetrieben ist sie dabei von folgender Motivation: „Ich werde erst glücklich sein, wenn ich den am meisten missverstandenen, am meisten verachteten Stamm auf der Erde, den ärmsten Menschen gefunden habe, um ihm zu sagen: Der Herr Jesus ist dein Bruder und Er hat dich bis zu sich erhoben und ich komme zu dir, damit du einwilligst, mein Bruder und Freund zu sein.“ Auf ihren Reisen findet sie überall dieselbe Erwartung: „Echt kontemplatives Leben verbunden mit dem Leben mitten in der Welt. Alle kleinen Schwestern, die bei mir sind, fühlen ganz deutlich diesen Ruf. Er antwortet einem Bedürfnis der neuen Zeit. Es ist das Wirken des Heiligen Geistes.“

Ergreifend ist die Wiedergabe einer mystischen Erfahrung aus den 1930er-Jahren. Magdeleine erzählt in einem Brief auf einerseits vorsichtig diskrete, andererseits ihrer Erfahrung aber durchaus selbstgewisse Weise, wie ihr die Vereinigung mit Jesus als Kind geschenkt wurde. „Ich war es, der die heilige Jungfrau ihren kleinen Jesus in die Arme legte. Ich habe in diesem Moment nicht mehr an meine Sünden gedacht, sondern nur an die Freude, die ich nicht mit menschlichen Worten ausdrücken kann. Voll überschwänglicher Zärtlichkeit umarmte ich das Jesuskind und drückte es so sehr an mein Herz, dass es sich mir einverleibt hat – (auch das kann ich nicht erklären).“

Rückblickend erklärt sie: „Ich habe damals mit niemandem darüber gesprochen, weil ich nicht wusste, wem ich es erzählen sollte – und vor allem, weil ich es selbst für einen Traum hielt – obwohl ich das selbst nur halb glaubte –, denn von diesem Tag an gab es eine große Veränderung in mir.“ Über Monate, Jahre hinweg wiederholt sich diese Erfahrung der „sehr spürbaren Gegenwart des Jesuskindes“. Sie weiß selbst nicht recht, wie sie es nennen soll – Traum, Vision, Offenbarung … Sie ringt um Worte: „Es handelt sich keineswegs um ein Sehen mit den Augen des Körpers, sondern mit der ganzen Seele. Es ist zugleich viel mehr und viel weniger als eine Vision, denn es ist eine immerwährende Gegenwart, deren Wirkung die ganze Seele durchdringt.“

Wenn man solche Zeilen liest, wird man vom Außergewöhnlichen berührt. Manche werden sich dagegen immunisieren und sich sagen: Damit habe ich nichts zu tun. Das ist mir fremd. Aber vielleicht gibt es auch einige, die sich sagen: Mir ist das zwar nicht gegeben, aber ich freue mich, wenn andere solche Erfahrungen machen und solche Wege gehen. Das tröstet mich und ich fühle eine innere Verbundenheit. – Genau das könnte die Bekanntschaft mit der Kleinen Schwester Magdeleine durch das Buch bewirken. Darüber hinaus kann man sich einen Appell zu eigen machen, den Magdeleine an ihre Schwestern richtete. Er gilt heute im säkularen Umfeld der Gegenwart genauso wie vor 65 Jahren: „Was wir tun wollen, ist, zu denen zu gehen, die als ‚uninteressant‘ gelten, weil sie vermeintlich unbekehrbar sind. Wenn uns das gesagt wird, antworten wir immer: ‚Selbst, wenn sie sich nicht bekehren, müssen wir mit Liebe zu ihnen gehen, denn die Liebe bringt sie Gott näher.‘ In diesem Sinne sage ich manchmal, dass wir den Menschen unsere Freundschaft ‚gratis‘ anbieten müssen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten…“

So verstanden könnte die Kleine Schwester Magdeleine im Zuge der Lektüre ihrer Selbstzeugnisse nicht nur von einer Unbekannten zu einer guten Bekannten werden, sondern sogar zu einer guten Freundin.

Christ in der Gegenwart im Abo

Unsere Wochenzeitschrift bietet Ihnen Nachrichten und Berichte über aktuelle Ereignisse aus christlicher Perspektive, Analysen geistiger, politischer und religiöser Entwicklungen sowie Anregungen für ein modernes christliches Leben.

Zum Kennenlernen: 4 Wochen gratis

Jetzt testen