Vor zwei Jahren ist mein Vater gestorben. Er wurde 95 Jahre alt. Die letzten sechs Jahre seines Lebens hat er in einem Seniorenheim verbracht, das den schönen Namen Abendfrieden trägt. Es liegt am Rande der Stadt, in der ich mit meiner Familie wohne und in die mein Vater gezogen war, als er nicht länger in seinem eigenen Haus bleiben konnte. Meine Mutter war schon viele Jahre zuvor gestorben. An Depressionen erkrankt, hatte sie ihrem Leben mit 66 Jahren ein Ende gesetzt. So blieb mein Vater allein, so gut es eben ging. Irgendwann ging es nicht mehr.
Wir fanden das Haus Abendfrieden, und mein Vater hatte großes Glück damit. Denn im Gegensatz zu vielen, leider auch oft zutreffenden Berichten aus derartigen Einrichtungen ging es meinem Vater dort rundum gut. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass Papa dort die unbeschwertesten, sorgenfreiesten Jahre seines Lebens verbracht hat – obwohl er den ganzen Tag im Rollstuhl sitzen musste, da seine Knie längst ihren Dienst quittiert hatten.
„Du wirst 100!“, haben wir Kinder oft zu Papa gesagt. Er ließ uns das durchgehen. Aber wenn wir nicht bei ihm waren, vertraute er einer Pflegerin an, dass er gar nicht so alt werden wollte. Und wie so oft, wenn mein willensstarker Vater sich etwas vorgenommen hatte, setzte er seine Absicht in die Tat um.
Ich kann mit dem Tod meines Vaters gut leben. Es war ein freundlicher Tod, dem ein gutes Sterben voranging. Ich denke, das so sagen zu können, ohne der Realität auszuweichen. Ich kenne den Tod sehr wohl auch als Feind, als grausamen, hinterlistigen Zerstörer. Es gibt Tode, mit denen ich überhaupt nicht gut leben kann. Und mit dem Sterben, das jenen Toden vorausging, werde ich mich nie und nimmer abfinden oder gar anfreunden.
Das Sterben meines Vaters war ganz und gar anders. Sein Tod kündigte sich höflich an und fand meinen Vater im Grunde bereit. Schon seit einigen Wochen hatten sich Veränderungen bemerkbar gemacht. So schlief Papa häufiger ein, auch in Gesellschaft am Tisch oder auf der Terrasse. Es fehlte ihm öfter der Appetit, selbst auf Kuchen, von dem er bis dahin immer gern ein zweites Stück genommen hatte. Auch in der Kommunikation ließen sich Veränderungen feststellen. So fiel mir auf, dass Papa sich bei meinen Besuchen zwar über meine Anwesenheit zu freuen schien, sich dadurch aber kaum noch von seinen sonstigen Tätigkeiten abbringen ließ. Er fuhr dann fort, Bücher und diverse Papiere durchzublättern oder Kurs auf sein Bad zu nehmen, worin er verschwand, um sich hingebungsvoll der Pflege seiner Zahnprothese zu widmen, dem – neben seiner Brille – wichtigsten Gegenstand seines alltäglichen Lebens. Mich vergaß er darüber fast ganz, schickte nur hin und wieder ein „Hallo, hallo“, offenbar, um zu prüfen, ob ich noch da sei.
Irgendwann setzte eine neue Entwicklung ein. Papa wurde immer wieder für kurze Zeit ohnmächtig. Es war offensichtlich: Er war schwach, sehr schwach. Wir mussten also beraten, was zu tun war. Ich konsultierte den Hausarzt, einen lebensklugen und zugleich vernünftigen Mediziner, der uns riet, der Natur ihren Lauf zu lassen, auf alle kurativen (auf Heilung und Wiederherstellung ausgerichteten) Maßnahmen zu verzichten und Papa stattdessen palliativ betreuen zu lassen, also Schmerzen, Durst, Unruhe, Angst zu lindern, aber alles darüber Hinausgehende zu unterlassen. Das entsprach den vor Jahren bereits getroffenen Verfügungen meines Vaters und auch unseren, seiner Kinder Vorstellungen.
In den nächsten Tagen fanden sich meine Schwester und mein Bruder, meine eigenen Kinder und weitere Verwandte ein, um sich von Papa zu verabschieden. Zumeist war er am Tage und auch in der Nacht ruhig. Nur manchmal ergriff ihn eine eigenartige Unruhe. Dann nestelte er an der Bettdecke oder zeigte an die Wand oder Zimmerdecke, wo er irgendetwas zu erkennen meinte, ohne sagen zu können, worum es sich handelte. Wenn die Unruhe zu arg wurde, gaben die Schwestern und Pfleger ihm einige Tropfen eines angstlösenden Medikaments, das zumeist bald schon seine lindernde Wirkung tat.
Für gewöhnlich aber schlief er, mit leicht geöffnetem Mund, die rechte Hand entspannt auf der Brust, die linke ebenso entspannt auf dem Bett liegend. Manchmal nahm er mit beiden Händen meinen Arm und führte ihn in die Nähe seines Gesichts, so als hielte er ein Kissen oder ein Kuscheltier. Das beglückte mich. Überhaupt suchte ich Papas körperliche Nähe. Ich nahm seine Hand, massierte seine Beine, streichelte seine Wangen und gab ihm hin und wieder einen Kuss auf die Stirn. Es klingt eigenartig, aber nie war ich meinem Vater näher. Alle Grenzen zwischen uns lösten sich auf. Und in der Tiefe unserer Beziehung formte sich etwas Unsagbares, eine geheime Übereinkunft jenseits von Leben und Tod. Es ist ein Geheimnis. Also schweige ich davon. Soll der Tod doch machen, was er will. Dort, wohin ich mit Papa gelangt bin, hat er keinen Zutritt.
Während der zwei Wochen an der Seite meines allmählich entschwindenden Vaters hatte ich gar nichts zu tun als nur dazusitzen. Immer wieder fanden sich Gedanken ein, denen ich nachhängen konnte. Einer davon ist dieser: Wir können das Leben nicht festhalten, um es zu besitzen. Wir müssen es – wir müssen uns – loslassen, um uns zu finden. Das lässt sich nicht beweisen, nur erfahren. Je weiter mein Vater von mir fortreiste, desto näher kam er mir. Und der Moment seines Todes war zugleich der Augenblick seiner dichtesten Präsenz. Dieser Augenblick heißt, so glaube ich, Liebe.
Einige Tage bevor mein Vater starb, geschah etwas Eigenartiges: Ich saß wieder einmal an seinem Bett. Es war ganz still um uns her. Da sagte und wiederholte er mehrere Male die Silbe „Für…“, „Für…“, und noch einmal „Für…“ Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und fragte: „Papa, was sagst du?“ Ich erhielt zunächst keine Antwort. Doch kurz darauf sagte er leise, aber klar und verständlich: „Fürchte dich nicht!“ Wenige Tage darauf, einen Tag nach dem 60. Geburtstag meiner Schwester, starb er. Ich hatte ihn gebeten, diesen Geburtstag abzuwarten. Daran hat er sich gehalten.
Heute, zwei Jahre nach seinem Tod, höre ich Papas „Fürchte dich nicht!“ noch immer und immer wieder, so als flüstere er es mir gerade in diesem Moment ins Ohr. Und ich antworte ihm: „Papa, ich habe gar keine Angst. Denn du hast mir gezeigt, dass der Tod auch freundlich und das Sterben sanft sein kann. Du hast mir gezeigt, dass der Tod – wie Franz von Assisi sagt – auch unser ‚Bruder‘ sein kann.