Die Geburtsgeschichten der Bibel erzählen nicht, wie es damals war, als Jesus geboren wurde. Sie sind vielmehr Fiktion, eine literarische Deutung, mit deren Hilfe die Einzigartigkeit Jesu aufscheinen soll. Von „Glaubensgeschichten“ spricht die Theologin und CIG-Autorin Annette Jantzen. Und sie legt Wert darauf, dass niemand hier das Wörtchen „bloß“ hinzufügt – also „bloß Glaubensgeschichten“ sagt, als wären sie weniger wert als harte Fakten. So ist es nämlich nicht. Im Gegenteil: Die Evangelisten, und genauso die ersten Leserinnen und Hörer der Bibel, gingen davon aus, „dass sich manches, was von wirklicher Bedeutung ist, nur in solchen Erzählungen im übertragenen Sinne transportieren lässt“.
Wer sich dessen bewusst ist, wird die Geburtsgeschichten von Lukas und Matthäus anders hören. Er wird dann nicht den Fehler machen, die falschen Fragen oder Erwartungen an die Texte zu stellen. All das ist schon einmal eine gute Haltung für den Anfang, die erfreulicherweise bereits weite Kreise gezogen hat.
Und doch ist es erst die „halbe Miete“. Denn selbst wenn wir sie als Glaubensgeschichten verstehen, tragen wir immer noch viele überkommene Klischees und verzerrte Vorstellungen in die Erzählungen hinein. Kaum eine Krippe, kaum eine Weihnachtspredigt kommt zum Beispiel ohne die Rede vom ärmlichen Stall aus, in dem Jesus angeblich geboren wurde. „Je abgewrackter, desto besser. Umso größer ist der Kontrast zum Gottesgeschenk, das da weiß in der Krippe leuchtet“, so Annette Jantzen.
Oder das Motiv der vergeblichen Herbergssuche: In so ziemlich jedem Krippenspiel braucht es einen oder mehrere knurrige, hartherzige Wirtsleute, die der heiligen Familie die Tür vor der Nase zuschlagen. Das passt gut in die Dramaturgie, kann aber eine fatale Wirkungsgeschichte entfalten. „Nicht nur manchmal klingt alter christlicher Antijudaismus mit bei der Betrachtung dieses so unglücklichen Lebensstartes des Gotteskindes, abgelehnt und ausgegrenzt von Beginn an.“ Allerdings, so stellt Annette Jantzen klar: „Von alldem ist im Lukasevangelium keine Rede.“
Vor genau einem Jahr ist die Autorin in vier Adventsmeditationen im CIG den wichtigsten Fehldeutungen nachgegangen. In ihrer Ehrenrettung für den Wirt legte sie beispielsweise dar, dass Jesus – auch auf der Erzählebene – nicht in einem heruntergekommenen Stall das Licht der Welt erblickte. Es stimmt zwar: In der Herberge war kein Platz (vgl. Lk 2,7). Aber die „Herberge“ war eben keine Pension, kein Hotel – sondern der typische Anbau an die Ein-Raum-Häuser der Levante. Weil der schon belegt war, wurden Maria und Josef ins Heim der Familie aufgenommen (das man sich mit den Tieren teilte). Man rückte zusammen und legte das Neugeborene in die Krippe, damit es vor den Hufen der Tiere geschützt war. Mit diesem Hintergrund bekommt die Geburtsgeschichte eine komplett andere Sinnspitze. „Wenn Lukas das von der Geburt Jesu erzählt, dann erzählt er keine Geschichte von Unglück, Ausgrenzung und Verachtung, sondern er erzählt davon, dass dieses Leben von Anfang an eingewoben war in die Solidarität der Armen“, erklärt Annette Jantzen.
Es freut uns und macht uns auch ein bisschen stolz, dass unsere Reihe im vorigen Advent die Grundlage für dieses Buch geworden ist. Auf 144 Seiten kann Annette Jantzen dabei natürlich noch ausführlicher werden, als es in den vier CIG-Meditationen möglich war. So beleuchtet sie etwa kundig die Kontinuität der Geburtsgeschichten mit der frühjüdischen Tradition bzw. der Hebräischen Bibel. Primär wollten die Evangelisten Jesus damit nämlich „in die Erzählungen seines Volkes einschreiben“. Ähnlich verhält es sich mit den „Stammbäumen“ Jesu. Und auch weiteren Personen und Elementen der Geburtsgeschichten geht die Autorin auf den Grund: Maria, den Engeln, den Magiern ... oder dem Motiv der Jungfrauengeburt, das sie als „Einhorn der Antike“ entlarvt.
Mit ihrem immensen Wissen aus jüdischer und christlicher Theologie, aus sozialgeschichtlicher Exegese und Religionsgeschichte „entstaubt“ und „durchlüftet“ Annette Jantzen überzeugend die Weihnachtsbotschaft. Damit gibt sie uns Gelegenheit, den Kern der Geschichten neu zu entdecken – auf dass die Botschaft in ihrer ursprünglichen Bedeutung wieder für unser Heute leuchten kann.