Erhobener Zeigefinger. Die Botschaft ist klar: Das darf man nicht tun! Doch warum eigentlich nicht? „Die Freiheit jenseits des Erlaubten ist eine Faszination des erfüllten Lebens, der Reiz des Verbotenen ist eine rätselhafte Kraft“, so Leander Steinkopf. Über diese „Heilige Scheu“ hat er einen lesenswerten und mit spitzer Feder sehr pointierten, polarisierenden Essay geschrieben. Spannend sind die Ausführungen des Wissenschaftsjournalisten und Psychologen sowohl für jene, die gerne das Fähnchen der Tugendhaftigkeit schwenken, wie auch für jene, die große Freude am Regelbrechen haben und nicht zu sehr grübeln, was andere von ihnen und ihrem Verhalten denken.
„Mit Verstößen gegen die Vernunft verhält es sich anders als mit solchen gegen Sitten. Denn die Regeln der Vernunft oder jene Handlungsleitlinien, die als vernünftig gelten, haben ja meist eine tatsächliche Begründung jenseits der Tradition und der Religion“, so Steinkopf. „Gegen Sitten zu verstoßen, fühlt sich nach Freiheit an und ist gleichzeitig ganz wunderbar cool und gewaltig harmlos.“ Auch die besonders braven Zeitgenossen lieben hin und wieder den Nervenkitzel. Der Band Der Reiz des Verbotenen macht daraus keinen Hehl. Unvernunft hat durchaus etwas Befreiendes. Gleichzeitig ist es ein Spagat, ein Drahtseilakt, denn Regeln und Gesetze garantieren ein Leben in geordneten Bahnen und ein funktionierendes Miteinander. „Wir Menschen haben einen sehr feinen Instinkt für die Einschränkungen unserer Freiheit und eine sehr große Motivation, diese Einschränkungen niederzureißen“, schreibt Steinkopf und verweist auf den Römerbrief: „Ich hätte ja von der Begierde nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren“ (7,7).
Doch wonach drängt das Verlangen? Schwarzfahren in der Bahn, Rauchen auf dem Schulklo, Seitensprünge, Gummibärchen vom Schreibtisch der Kollegen stibitzen oder Äpfel aus dem Nachbargarten, Geschwindigkeitsüberschreitungen im Straßenverkehr oder an religiösen Fastentagen beherzt in die Chipstüte greifen? Die Liste an Regeln, die nicht gebrochen werden dürfen oder sollten, dann aber doch missachtet werden, lässt sich wohl unendlich fortschreiben – von harmlos bis möglicherweise verheerend hinsichtlich der Folgen und Sanktionen seitens des Gesetzes oder des Gewissens. Für Letzteres liefern Kirchen und Religionen eine Steilvorlage. In der Bibel steht an so mancher Stelle: Bloß nicht daran denken. Auf keinen Fall tun! Vielen kommt vielleicht auch die Drohung aus Kindertagen in den Sinn: Der liebe Gott sieht alles.
Als Inbegriff des Regelbruchs gilt im christlichen Kontext und auch darüber hinaus die Sünde. „Das Konzept der Sünde und des Menschen als Sünder impliziert, dass der Regelbruch ein natürlicher Teil des Lebens ist“, resümiert Steinkopf. So bieten die sieben Todsünden etwa ein „Übertretungspotential, süß und sanft wie Speiseeis“. Gleichzeitig liefern gerade die Todsünden ihre Nachteile gleich mit: „Der Missgünstige lebt unzufrieden, Völlerei macht fett, und der Wollüstige ist unausgeglichen.“
Ob nun bibelfester Leser oder nicht – bei einem Blick in das Buch der Bücher lässt sich an so mancher Stelle in den Evangelien entdecken – auch Jesus hat Regeln gebrochen. Häufiger, als es sich vielleicht vermuten lässt. Ein Umstand, den Steinkopf bedauerlicherweise ignoriert. Beim Tod hat sich Jesus nicht an die Regeln gehalten – Wer tot ist, ist tot. Eben nicht! – Jesus ist auferstanden. Bei seinem Handeln lautet aber der innere Kompass immer: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst.“ So hat Jesus mit fremden Frauen gesprochen, ist bei der Fußwaschung vor seinen Jüngern herumgekrochen, hat mit Zöllnern das Brot gebrochen oder auch gegen das Sabbat-Gebot verstoßen („Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“ – Mk 2,27). Jesus wollte, dass die Menschen nach dem Geist des Gesetzes leben. Das gilt es nicht zu vergessen, denn eine freiheitliche Gesellschaft braucht Regeln. Gleichzeitig sind Regelbrüche mitunter nicht immer unbedingt skrupellos, sondern nur unkonventionell. Das untermauern Steinkopfs ebenso unkonventionelle Gedankengänge. Doch jetzt kommt er eben doch noch, der erhobene Zeigefinger: Das Wohl der Mitmenschen darf bei allem Reiz des Verbotenen nie aus den Augen verloren werden.