Dieter Schnabel, so heißt der Mensch, der vor ein paar Tagen gestorben ist, kurz vor Beginn des Advents. Er war mein Vater. Ich wundere mich selbst, wie sehr mir dieser Tod nahegeht. Er durfte eines natürlichen Todes sterben, lebenssatt mit fast 90 Jahren.
Ich bin umgeben von vielen Personen, die um liebe Menschen bangen und trauern. Sowohl von meinen israelischen als auch von meinen palästinensischen Freunden kenne ich dieses Bangen, ob die geliebten Menschen in Gaza noch leben – in einem Fall geht es um die Verschleppten, im anderen Fall um die Flüchtenden. Bei vielen Angehörigen ist dieses Bangen jedoch mittlerweile einer traurigen Gewissheit gewichen: Der geliebte Mensch ist tot. Ein Mensch, der durch Menschenhand getötet wurde. Und während ich diese Zeilen schreibe, weiß ich, dass auch in diesem Moment in meiner Nachbarschaft Menschen durch Menschen getötet werden und Menschen ihre Mitmenschen töten.
So vermischt sich in diesen Tagen vor Weihnachten mein kleines persönliches Schicksal, das ja nichts weiter als eine Konfrontation mit dem vorgesehenen Lauf des Lebens ist, mit dem ungeheuerlichen Leid in meiner Wahlheimat, dem Heiligen Land. Als Trauernder bin ich förmlich umflutet von einem Ozean von Leid. Während ich viel Beileid und Trost zugesprochen bekomme, suchen viele Schiffbrüchige in dem geschilderten Leidensozean vergebens nach einer Planke des Trostes und der Hoffnung, an der sie sich festhalten können. Die Ursache ihres ungeheuren Schmerzes wird der Welt in leicht bekömmlicher Form von Zahlen, Statistiken und Diagrammen präsentiert. Aus Menschen mit einem Namen und einer Biographie wird anonymes statistisches Material.
An Weihnachten feiere ich und bekenne gemeinsam mit Milliarden von Glaubensgeschwistern, dass Gott Mensch wurde, und zwar in Betlehem, als erstgeborener Sohn der Maria von Nazareth, mit dem Namen Jesus. Ich glaube, dass Gott Mensch mit einer unverwechselbaren Biographie wurde. Gott ist ein Experte des menschlichen Lebens geworden, und zwar aus eigenem menschlichem Erleben. Nichts tröstet mich gerade mehr! Scheinbar bin ich so kurz vor Weihnachten nicht allein mit meiner Stimmung der Nachdenklichkeit und des intensiven Wahrnehmens meiner Gefühle und Gedanken. Weihnachten ruft Erlebnisse und Erinnerungen wach und steigert die Sensibilität, offensichtlich nicht nur bei mir.
Wir Benediktinermönche der Dormitio-Abtei auf dem Jerusalemer Zionsberg gehen daher schon seit Jahren nach der mitternächtlichen Weihnachtsvigil zu Fuß die zehn Kilometer nach Betlehem, zur Geburtsgrotte in der Basilika, um dort gegen 4 Uhr morgens das Morgenlob zu singen. Bei diesem nächtlichen Gang in der Weihnachtsnacht haben wir eine große Rolle mit Namen dabei, die wir zum Geburtsstern in Betlehem bringen und dort niederlegen, um für diese Menschen zu beten. Mit den Namen vertrauen wir dem Neugeborenen in der Krippe die Biographien dieser Personen an, ihm dem Gott, der dort in Betlehem eine menschliche Biographie begonnen hat. Neben den vielen Namen aus der ganzen Welt und besonders auch des Heiligen Landes wird auch dieser Name auf der Rolle stehen: Dieter Schnabel.