Endlich ist sie da. Mehr als fünf Jahre nach Veröffentlichung der sogenannten MHG-Studie, die den Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland beleuchtet hat, legt die Evangelische Kirche (EKD) eine eigene Untersuchung vor. Auch bei ihr sind die Zahlen erschütternd: Die Rede ist von bis zu 9355 Missbrauchsopfern und rund 3500 Beschuldigten. Die Zahlen sind höher als erwartet – und auch höher als die der katholischen Kirche mit 3677 Betroffenen und 1670 Beschuldigten.
Wirklich vergleichbar sind beide Studien zwar nicht. Denn anders als die Diakonie bei der EKD war etwa die zur katholischen Kirche gehörende Caritas nicht Teil der MHG-Studie. Außerdem handelt es sich aufgrund der dürftigen Personalaktenlage bei der EKD um Hochrechnungen, was die Zahlen noch einmal verzerrt haben dürfte. Doch eins ist klar: Auch die evangelische Kirche hat ein gravierendes Problem mit sexuellem Missbrauch – und dafür eigene institutionelle Gefahrenherde. Dazu zählen etwa Verantwortungsdiffusion und -delegation, das progressive Selbstbild oder eine teilweise dilettantische Kommunikation, die sexuellen Missbrauch verharmlost hat.
Für viele Menschen, die Missbrauchsaufarbeitung in der katholischen Kirche auf die Bestrafung der einzelnen Täter reduzieren, nicht aber die systemischen Ursachen bekämpfen wollen, sind die Erkenntnisse der EKD ein gefundenes Fressen. Ähnlich wie bei den gleichsam hohen jährlichen Austrittszahlen kann das Mantra nun lauten: Zölibat, klerikale Männerbünde oder auch die strenge katholische Sexualmoral sind nicht schuld am sexuellen Missbrauch. Schließlich gibt es ihn auch bei den Protestanten.
Doch diese Schlussfolgerung ist zu kurz gesprungen. Zwar ist sexueller Missbrauch ein gesamtgesellschaftliches Problem und betrifft neben den Kirchen auch staatliche Einrichtungen, Sportvereine oder die Familie. Doch hat jedes System auch seine eigenen, den Missbrauch begünstigenden Faktoren. Für die katholische Kirche belegt das die MHG-Studie: Die Reduzierung von Sexualität auf den Geschlechtsakt in der Ehe, der Zölibat als Rückzugsort für Menschen, die ihre Sexualität unterdrücken woll(t)en und/oder anschließend nicht ausleben durften, sowie die Ehrfurcht vor dem geweihten Mann haben Missbrauch und dessen Vertuschung begünstigt. Die neue Studie der EKD darf daher nicht zur Relativierung oder Verharmlosung dieser Faktoren führen.
Ein interdisziplinäres Team ermittelte in der evangelischen Kirche mindestens 2225 Missbrauchsfälle seit 1949, geht aufgrund der unzureichenden Datenlage aber von einem Vielfachen dieser Zahl aus. Den rund 38000 ausgewerteten Personalakten in der MHG-Studie stehen rund 4300 Diziplinarakten aus der EKD gegenüber. Nur eine von 20 Landeskirchen stellte zusätzlich auch Personalakten zur Verfügung. Von den überwiegend männlichen Beschuldigten waren laut der Studie drei von vier zum Zeitpunkt der ersten Tat verheiratet.