Nach der evangelischen Missbrauchsstudie„Gott, ich verstehe dich nicht“

Was macht es mit ihrem Glauben, wenn Menschen sexuelle Gewalt erleiden? Betroffene erzählen ihre Geschichte.

Ich habe den Glauben an einen liebenden Gott verloren. Ich brauche Gott als Gegenüber in meinem Leben. Ich brauche jemanden, dem ich meine Nöte, Ängste, Sorgen, Freuden anvertrauen kann. Und ich habe nach wie vor Hoffnung, dass er mir in schwierigen Situationen hilft. Aber wenn er so allmächtig ist und so „lieb“ ist, wie ich zeit meines Lebens gedacht habe, warum lässt er so viel Schlimmes zu? Gott ist Gott – neutral –, ich verstehe ihn nicht. Aber noch glaube ich fest daran, dass er da ist...

Am meisten Angst habe ich, dass ich den Glauben von anderen Menschen zerstöre: einen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen, an eine „gute“ Kirche und einen „guten“ Gott. Wie soll man einer Kirche Vertrauen schenken, wenn man weiß, dass die Mutter oder Ehefrau darin missbraucht wurde? Als meine Oma damals von dem Missbrauch erfuhr und ich spürte, dass etwas in ihr kaputtging, etwas von ihrem Glauben an Gott und an die Kirche, war das eines der schlimmsten und grauenvollsten Erlebnisse in meinem Leben. Dafür will ich nie wieder verantwortlich sein – auch wenn es natürlich der Täter war. Aber wenn ich jetzt meiner Familie nichts davon erzähle, fühle ich mich zumindest diesbezüglich nicht schuldig.

Ida

Es ist nicht einfach zwischen mir und Gott. Wir haben immer wieder eine Menge zu bereden. Vielleicht habe ich auch zu lange Gott gegenüber geschwiegen…

Im Rückblick auf die Jahre, seit ich mein Schweigen gebrochen habe, muss ich sagen: Das war das Beste, was passieren konnte. Ich merke, wie ich mich seitdem mehr und mehr verändere, stärker werde, klarer werde. Ich merke, wie das dunkle Loch in mir bezähmbar wird, handhabbar wird, so dass ich ihm nicht mehr ausgeliefert bin. Ich merke, dass ich mit meinen Erinnerungen nun – nicht immer, aber immer öfter – umgehen kann. Ich merke, dass ich nicht nur überlebe, sondern dass ich lebe.

Thomas Wesskamp

Gott und ich haben im Laufe meines Lebens eine sehr wechselvolle Beziehungsgeschichte. Es gab Phasen mit viel Nähe und dann wieder mit großer Distanz. Heute vertraue ich wieder darauf, dass er da ist. Ich brauche nur die Hand auszustrecken oder ihn zu rufen, dann ist er da für mich. Wenn die Gottheit mir nahe sein will, dann muss ich aber mitbestimmen dürfen über unseren Kontakt. Die Worte im 139. Psalm, Vers 1 bis 5 empfinde ich als übergriffig. „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Ich will auch, dass Gott mal weggeht oder ich von Gott weggehen darf. Und ich wünsche mir, dass er das respektiert und mir nicht – wie bei Jona – seinen Willen aufzwingt. Heute vertraue ich darauf, dass er dies tatsächlich auch tut. Er geht auf das ein, was ich brauche. Und mit mir ist nur „ein Kontakt auf Augenhöhe“ möglich. Die Gottesanrede „Herr“ vermeide ich. Manchmal wende ich mich an ihn und manchmal bringt er sich bei mir in Erinnerung. Es geht dabei oft gar nicht mal in erster Linie darum, dass wir etwas voneinander wollen. Es geht eher um ein gemeinsames Dasein, ein Zusammensein und Freude aneinander.

Nscho-Tschi

Viele Jahre bin ich schon auf der Suche nach mir in diesem Leben, nach Gott oder dem Göttlichen in meinem Leben. Viele Jahre Therapie, Suchen nach dem heilen Kern, dem Unantastbaren, dem, was mich ausmacht, was nicht gebrochen wurde, und irgendwo tief in mir gibt es diesen göttlichen Funken. Diese einzigartige Verbindung. Gott sitzt nicht oben auf dem Thron, nein, Gott ist in mir und begegnet mir, wenn ich mich zulasse...

Als ich vor einigen Jahren allein pilgern war, allein in der spanischen Meseta, die Weite und das Blau des Himmels erschienen mir so unglaublich groß und die Weite des gelben Bodens war unerschöpflich, da konnte ich für einen Moment spüren, wie unermesslich groß alles um mich herum ist und wie unbedeutend und klein ich eigentlich bin, weniger als ein Staubkorn, doch für Gott bin ich nicht unbedeutend. Gott hat mich gezählt, hat mich beim Namen gerufen, Gott hat einen Plan, alles, was ich erlitten habe, war schrecklich und viel zu groß für ein Leben, und doch gibt es einen Sinn in meinem Leben. Da gibt es diese Vision, ein Bild der Stärke und Kraft, etwas Göttliches.

Hannah

Meine tiefe Trauer darüber, dass ich mein „Zuhause in der Kirche“, wie ich es damals formuliert hätte, verloren hatte, dauerte viele Jahre. Manchmal kommen mir auch heute noch die Tränen. Ich habe das Gefühl, mit dem, was ich erlebt habe, herausgefallen zu sein, nicht mehr dazuzugehören, nicht mehr reinzupassen und auch nicht mehr willkommen zu sein.

Meinen Glauben habe ich mit allen Höhen und Tiefen durch die Zeiten retten können. Natürlich hatte ich bei meiner Lebensgeschichte nie einen rosaroten Kinderglauben. In dem Spannungsverhältnis, an einen liebenden Gott zu glauben und gleichzeitig mit der Frage konfrontiert zu sein, warum so unendlich viel Leid geschieht, stehe ich, solange ich glaube.

Nach dem Tod meiner Mutter sagte mir jemand einen Satz, der bis heute in meinem Herzen geblieben ist: „Du darfst deine Fäuste zum Himmel ballen und schreien: ‚Gott, warum?!‘, aber wirf dein Vertrauen nicht weg!“

Wie viele Male habe ich meine Fäuste zum Himmel geballt?! Wie viele unzählige Male habe ich geschrien: „Gott, warum?!“ Wie viele Male habe ich mein Vertrauen verloren?! Und immer wieder entschied ich mich, es wieder aufzunehmen:

mein Vertrauen in Gott,

in das Leben,

in die Liebe,

in Beziehungen zu anderen Menschen

und – vielleicht war das das Schwerste überhaupt –

mein Vertrauen in mich selbst.

Inela Marin

 

Weitere Texte in Entstellter Himmel. Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche (Verlag Herder, Freiburg 2023). Die Herausgebenden gehören zur Initiative „GottesSuche: Glaube nach Gewalterfahrungen“.

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