Unser Verhältnis zu RusslandDifferenzieren lernen

Muss alles Russische „auf den Index“, weil Putin die Ukraine überfallen hat und ihm viele in der Bevölkerung folgen? Oder braucht es nicht gerade jetzt junge Menschen, die daran glauben, dass es irgendwann eine friedvolle Zukunft gibt, die auch Russland einschließt?

Der Text ist entstanden unter Mithilfe von zehn Schülern der katholischen Schule St. Paulus in Hamburg-Billstedt, die zu Streitschlichtern ausgebildet wurden.

Es war einst Bundespräsident Roman Herzog, der den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärte. Zu diesen Opfern gehören – auch wenn sie öffentlich weniger im Blick sind – auch die mehr als eine Million (Hunger-)Toten, die bei der deutschen Belagerung Leningrads umkamen. Daran hat an diesem 27. Januar, genau 80 Jahre nach Ende der Blockade, der deutsche Botschafter in Russland, Alexander Graf Lambsdorff, erinnert.

Hamburg verbindet mit Sankt Petersburg eine weltweit herausragende Städtepartnerschaft. Für eine geplante Schulpatenschaft haben wir alle Einrichtungen besucht, die diese Freundschaft tragen. Mit einigen Schülerinnen und Schülern machten wir zudem einen Abschiedsbesuch im hiesigen Russischen Generalkonsulat, bevor es zum Jahreswechsel komplett geschlossen wurde. Wir konnten dabei sowohl Klartext über den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine sprechen als auch Anekdoten und Erinnerungsbilder austauschen, die von den freundschaftlichen Jahrzehnten vor der Zäsur des 24. Februar 2022 künden. So lernten wir zu differenzieren, wie auch Jesus die Geister zu unterscheiden lehrte.

Warum wir nie einseitig Flaggen hissen

Wir erleben derzeit allzu oft das Gegenteil: Weil in Russland sehr viele Menschen für Putin sind, wird hierzulande alles, was russisch ist – selbst Kunst, Musik und Literatur –, pauschal „auf den Index gesetzt“. Auf unsere Schule in Billstedt gehen Kinder aus mehr als 100 Nationen, darunter Russland und die Ukraine. Deshalb hissen wir niemals einseitig Flaggen, die bestimmte Schüler ausgrenzen würden, sondern beten gemeinsam um Frieden, Hand in Hand.

I have a dream, rief einst Martin Luther King: Ich habe einen Traum. Wir träumen davon, dass der 300. Geburtstag Immanuel Kants in nicht allzu ferner Zukunft ein deutsch-russisches kulturelles Gedenkfest mit Königsberg/Kaliningrad als Zentrum wird. Wir träumen davon, dass der große Jahrestag des Morgenländischen Schismas von 1054 bereits jetzt und in den kommenden 30 Jahren inhaltlich von den Geschwisterkirchen in Ost und West vorbereitet wird (inklusive radikaler Abkehr von Kriegsrhetorik mancher Patriarchen). Wir träumen davon, dass die Projekte des „Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ in Russland nach Kriegsende überlaufen sein mögen. Denn die Versöhnung von Jugendlichen über den noch tausendfach anzulegenden Gräbern dort, wo man sich früher mit Waffen gegenüberstand, bewirkt auf unüberbietbar niveauvolle Weise Frieden und Völkerverständigung im Heranwachsendenalter.

Wir träumen schließlich davon, dass die sozialen Medien dazu beitragen, dass sich in der Schulgeneration neue Freundschaften mit Russlands jungen Menschen entwickeln. Wir träumen davon, dass diese wie in der DDR zu einer unblutigen Revolution im größten Land dieser Erde führen, um endlich international die Kriegstreiber zum Schweigen zu bringen, die den nachkommenden Generationen ihr Recht auf Frieden, Freiheit und globale Familienzugehörigkeit – wirtschaftliche Prosperität inklusive – rauben. Nie wieder (Krieg!) ist jetzt.

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