Den Erstling dieser kreativen Intellektuellen, die spätestens als Geliebte Rilkes und Schülerin Freuds berühmt wurde, aus der Versenkung zu holen, ist eine Großtat – freilich nicht wegen seiner eher überschaubaren literarischen Qualität, sondern aufgrund seiner typisch modernen Thematik. Geht es doch, immerhin im Jahre 1885 und also hellsichtig, um Fragen, die heute alltäglich geworden scheinen: Was geschieht, wenn Gott verloren geht, jedenfalls der kirchlich gelernte und christlich vertraute? Wie mit dem Schmerz des Verlusts und dieser Lebenswunde umgehen, wie mit der gewonnenen Freiheit und der entstandenen Leere? „Und wer hilft dir aus dieser ertödtenden Nichtigkeit des Lebens?“
Der erstaunliche Roman der gerade 23-jährigen Russin ist just ein Jahr nach ihrer Trennung von Nietzsche entstanden. Seine Hauptfigur Kuno erinnert als Typ und auch mit vielen seiner Gedanken an den Philosophen, bis zu wichtigen seiner Aphorismen im Wortlaut. Er wie auch die anderen Figuren des Romans sind Verlassene, die sich heroisch durcharbeiten zu einer neuen allumfassenden Weltbejahung trotz allem, „zu einem Wandeln von Gott zu Gott“ (bzw. Gottesersatz), nun a- und post-theistisch. Auch und gerade Leid und Schmerz sind da aufgehoben in einer großen Zustimmung zum Leben. Was das speziell für weibliche Selbstverwirklichung unter androzentrischen Bedingungen bedeutet (von „männlicher Habsucht“ ist die Rede), zeigen beispielhaft die drei Frauenschicksale des Romans. Der fand sofort bei Erscheinen große Resonanz, und seine Wirkungsgeschichte ist erheblich, wie der Herausgeber, der Professor für Kulturpädagogik/Ästhetik und Kommunikation Hans-Rüdiger Schwab, belegt.
„Vom intellectualen Gewissen“ ist im Roman die Rede, „welches das Denken zu rücksichtsloser Consequenz erzieht“. Ja, um intellektuelle und spirituelle Redlichkeit geht es! Sieben Jahre zuvor hatte Nietzsche selbst geschrieben, mit dem Christentum könne „man sich, nach dem gegenwärtigen Stande der Erkenntnis, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein intellectuales Gewissen heillos zu beschmutzen“. Während der intensiven Tautenburger Gespräche mit Andreas-Salomé und Freund Rée notiert Nietzsche: „Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht vor und muß es entweder leugnen oder – schaffen (schaffen helfen).“ Treffend kommentiert der Herausgeber: „Selbstfindung und Gottessschöpfung fallen in einem Vollzug autonomer Kreativität zusammen.“ Nicht zufällig rückt in diesem Zusammenhang das Programm einer „Mystik“ in den Mittelpunkt.
„Wo Sehnsucht und Verzweiflung sich paaren, da entsteht die Mystik“ – diese Sentenz aus Nietzsches Spätwerk wird nicht zufällig heutzutage viel zitiert. Sie beweist nicht nur die Aktualität von Nietzsches Diagnosen, sondern auch Andreas-Salomés Bedeutung als Kulturwissenschaftlerin. Das zeigen ihre späteren Werke, besonders ihr nachgelassenes philosophisches Hauptwerk Der Gott (1909/10), ebenfalls von Schwab in dieser 20-bändigen Werkausgabe mustergültig ediert. Was Andreas-Salomé später von Nietzsche schreibt, markiert wohl für viele die spirituelle Signatur der (Post-)Moderne und fordert heraus: Der „tragische Conflict seines Lebens“ habe letztendlich darin bestanden, „des Gottes zu bedürfen und dennoch den Gott leugnen zu müssen“, auf einer „lebenslänglichen Gottersatz-Suche“ unterwegs. Die Titelmetapher erinnert nicht zufällig an Jakobs Kampf, diese biblische Schlüsselerzählung erlittener Gottsuche (und Bruderfindung!).