BiographieWahrhaft tapfer

Das Leben von Etty Hillesum steckte voller faszinierender Widersprüche. Ein neues Buch begibt sich auf Spurensuche.

Vor fünfzig Jahren hörte ich zum ersten Mal von Etty Hillesum. Der hellsichtige Religionspädagoge Hubertus Halbfas zitierte ihre Sätze, wonach Gott uns nicht helfen könne – vielmehr müssten wir ihm endlich helfen und ihm einen Unterschlupf bei uns verschaffen; dann würden wir auch uns selbst helfen. Inzwischen sind diese Worte aus ihrem großartigen Tagebuch viel zitiert. Aber erst in der mitreißenden Biographie von Judith Koelemeijer wird der Kontext wirklich plastisch: Die Sätze wurden verfasst im Angesicht einer weiteren Eskalation der Nazi-Gewalt in Amsterdam. Glänzend recherchiert und förmlich spannend geschrieben, ist mit dem Buch eine unglaublich detailreiche und trotzdem stringente Gesamtdarstellung von Etty Hillesums Leben und Werk gelungen. Sie wird fortan für alle, die sich näher mit ihr beschäftigen, zur Pflichtlektüre und zum Standardwerk werden. Die Texte des Tagebuchs gewinnen an Plastizität und Gewicht, die Persönlichkeit der Verfasserin wird noch widersprüchlicher, lebendiger und faszinierender.

Deutlicher wird etwa, wie tief Etty Hillesum von Anfang an jüdisch geprägt war und blieb, keineswegs nur bestimmt durch das liberal-jüdische Elternhaus, sondern durch Freundschaften und Engagements bis in zionistische Kreise hinein. Die Rede von Gott, die im Tagebuch wie vom Himmel gefallen erscheinen mag, bekommt also tiefe Ursprünge. Bezeichnend ist auch, dass Etty dem Drängen von Freundinnen und Freunden, unterzutauchen oder gar in den bewaffneten Widerstand zu gehen, ausdrücklich nicht folgt. Sie will „gehen für ihr Volk“.

Viel klarer wird auch die Bedeutung von Ettys russischer Mutter und deren Herkunftsfamilie. Wie viel (Erb-)Lasten von Unterdrückung und Flucht, bis in stalinistische Zeiten! Ettys Liebe zur russischen Sprache und Dichtung geht weit über die Belletristik hinaus. Ihre ersten Übersetzungsversuche von Dostojewskij blieben leider Fragment, ihr Lebenswunsch, in Russland versöhnend wirken zu können, unerfüllt.

Was schon das Tagebuch aufregend macht, kommt durch die differenzierte Darstellung der ersten Lebenshälfte erst recht zum Vorschein: nicht nur das Drama des begabten Kindes, sondern auch der leidenschaftliche Lebens- und Liebeshunger einer jungen Frau auf der Suche nach sich selbst. Die Klarheit, mit der Koelemeijer diesen Reifungsweg beschreibt, ist von geradezu „schwesterlicher“ Diskretion. Ettys wildes Liebesleben und ihr absoluter Wille, ungebunden und frei sein zu wollen, kommen ebenso zur Sprache wie ihr politisches Interesse und ihr soziales Engagement. Auch ihr früher Hang zum Schwärmerischen und Idealistischen, der dann immer stärker durch die harte Realität ernüchtert wird, wird deutlich. Dass das ersehnte Lebensziel „Schriftstellerei“ viel mit der genauen Wahrnehmung der Wirklichkeit zu tun hatte, musste sie erst langsam lernen, und dieser Lernprozess trägt im Tagebuch sichtbare Früchte bis hin zu den großen Reportagebriefen über die wahren Zustände in Westerbork.

Koelemeijers Biographie ist zugleich ein Stück jüngerer Zeitgeschichte der dunklen Nazizeit. Nicht zuletzt werden Größe und Grenzen ihres geliebten Lehrers und Freundes Julius Spier sichtbar. Seine therapeutische Kompetenz und seine Praktiken, die heute wohl auch als sexueller Missbrauch zu bewerten wären, sind das eine. Das andere ist seine offensichtlich große Ausstrahlung, die Hillesum nach ihrem eigenen Urteil erst zu der werden ließ, die sie war: eine von Neugierde und Liebe brennende Person, deren zwei Lebenshälften in rasantem Tempo und nicht ohne viele Schmerzen zu einem einzigartigen Ganzen zusammenwuchsen, tragisch abgebrochen und irgendwie dennoch früh vollendet in einem wahrhaft tapferen Leben.

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