CHRIST IN DER GEGENWART: Viele Umstände der Amokfahrt von Mannheim sind noch unklar. In jedem Fall weckt das Geschehen aber Erinnerungen an Anschläge mit Autos in den vergangenen Wochen und Monaten. Wie bekommen wir es hin, dass wir jetzt nicht völlig verängstigt durchs Leben gehen?
Katharina Domschke: Das ist nicht so einfach, aber möglich, indem man sich zum Beispiel ganz bewusst auf sein persönliches Hier und Jetzt konzentriert, seinen eigenen Mikrokosmos, den man beeinflussen und steuern kann – im Gegensatz zu Ereignissen wie Terrorakten, aber auch dem Klimawandel oder der politischen Weltlage, die für jeden Einzelnen letztlich unkontrollierbar sind. Hilfreich ist auch, die eigenen emotionalen Ressourcen zu stärken – sei es über soziale Kontakte, Sport, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen oder die Beschäftigung mit Kunst oder Musik. Weiterhin ist anzuraten, den Medienkonsum vor allem auf sozialen Kanälen einzuschränken und Push-Nachrichten und Breaking-News abzuschalten – das Doom-Scrolling, also das exzessive Konsumieren negativer Nachrichten, ist belegtermaßen ein massiver Katalysator für Ängste.
Taten wie in Mannheim können den Eindruck vermitteln, dass man in der Öffentlichkeit nie und nirgends sicher ist – sondern dass es einen jederzeit und überall treffen kann. Was wäre das Falscheste, was man jetzt tun könnte?
Neben den allgemeinen Vorsichtsmaßnahmen und einer gewissen Wachsamkeit sollte man sich auf keinen Fall aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Schauen Sie nach Israel, wo die Menschen seit Jahrzehnten mit terroristischen Anschlägen leben müssen. Auf meine Frage, wie man das denn schafft, habe ich immer wieder von dort lebenden Kollegen und Bekannten gehört, dass sie dem Terror keine Macht über ihr Leben einräumen möchten und sich von der Angst nicht die Gegenwart rauben lassen wollen. Oder mit den Worten des Schriftstellers Salman Rushdie, der nach einem Todesurteil durch den damaligen obersten Führer des Iran, Ruhollah Chomeini, lange im Untergrund lebte: „Wenn man Angst hat, kann man nichts anderes mehr tun, als Angst zu haben. Die übernimmt dann die Herrschaft. Jeder Mensch muss lernen, zu akzeptieren, dass die Welt beängstigend ist. Und dass das wohl so bleiben wird. Aber das darf uns nicht davon abhalten, weiterzuleben.“
Die Anschläge der vergangenen Monate und auch die Amokfahrt von Mannheim treffen eine Gesellschaft, die ohnehin verunsichert und gereizt ist. Manche sagen, gerade der zurückliegende Wahlkampf sei von Angst geprägt gewesen. Wie nehmen Sie das wahr?
Grundsätzlich spielt Angst bei allen politischen Vorgängen, und so eben auch in einem Wahlkampf eine Rolle. Wovor die Bevölkerung Angst hat, bestimmt natürlich auch die Themen im Wahlkampf. Und das ist bis zu einem gewissen Grad auch richtig so. Die Gratwanderung in der Politik ist dabei aber, reale Ängste ernst zu nehmen, sie aufzugreifen und Maßnahmen dagegen zu entwickeln, Ängste aber nicht zu instrumentalisieren, also als Machtinstrument einzusetzen.
Wie lässt sich eigentlich eine so individuelle Emotion wie Angst auf die Gesellschaft als ganze übertragen?
Angst ist eine Grundemotion des Menschen, genau wie Freude, Trauer oder Wut. Entsprechend betrifft die Angst sowohl das Individuum als auch die Gemeinschaft. In einer Gesellschaft kann Angst als Verlust- oder Zukunftsangst, Terror- oder Klimaangst bis hin zu einer Massenpanik auftreten. Auch in der Werbung, in den Medien, in der Politik, in der Wirtschaft und im Job spielt Angst durchaus eine übergeordnete Rolle. Hass und Aggression sind ebenfalls gesellschaftlich sichtbare Dimensionen der Angst, wie man das sehr gut am Beispiel der Xenophobie beobachten kann, die als Fremdenfeindlichkeit bis hin zum Fremdenhass gefährlich entarten kann. Und schließlich sind Alkohol, Cannabis und Nikotin gesellschaftliche bzw. politische Faktoren, von denen man mittlerweile gut belegt weiß, dass sie Ängste und Angsterkrankungen befördern können.
Den Deutschen wird ein besonderer Hang zur Angst nachgesagt. Ist da etwas dran?
Die German Angst ist ein in den Medien vielzitiertes, aber wissenschaftlich wenig belegtes Stereotyp. Oft wird gesagt, wir Deutsche würden emotional besonders intensiv auf potenziell bedrohliche Situationen wie zum Beispiel die Flüchtlingskrise, den Klimawandel oder die Corona-Pandemie reagieren. Auch werden den Deutschen in diesem Zusammenhang eine hohe Neigung zum Bedenkenträgertum, übertriebene Vorsicht und ein Hang zum Katastrophisieren unterstellt. Tatsächlich aber unterscheiden sich deutschsprachige Länder zumindest in psychiatrisch-psychologischer Hinsicht nicht von anderen europäischen Ländern.
Gibt es auch bei gesellschaftlicher Angst ein Niveau, wo es vom Nützlichen ins Krankhafte kippt?
Angst ist in der Tat zunächst einmal sehr sinnvoll, weil sie uns vor Gefahren warnt. In bedrohlichen Situationen ermächtigt die Angst unseren Körper zur sogenannten Fight-, Flight- oder Freeze-Reaktion und ist damit geradezu überlebensnotwendig. Bei unseren Patientinnen und Patienten sprechen wir dann von einer Angsterkrankung, wenn die Angst zu lang andauert, zu häufig auftritt, zu stark ausgeprägt ist und in Situationen auftritt, in denen objektiv nichts zu befürchten ist. Genau wie bei der individuellen Angst gibt es tatsächlich auch bei der gesellschaftlichen Angst einen Kipppunkt vom Normalen ins Pathologische. Nämlich dann, wenn sich die Fight-Reaktion in Aggression und Hass wendet, wenn die Flight-Reaktion zu sozialer Isolation und Lagerbildung führt, und wenn die Freeze-Reaktion ganze Gesellschaften lähmt und handlungsunfähig macht.
Welche „Therapie“ gegen allzu viel Angst ist gesellschaftlich möglich?
Hier möchte ich auf das Resilienz-Modell des Psychologen Martin Seligman verweisen, das sogenannte PERMA-Modell. „PERMA“ ist ein Akronym und steht für „Positive Emotionen“, „Engagement“, „Relationships“ im Sinne tragfähiger Beziehungen, „Meaning“, also sinnhaftes Handeln, und „Accomplishment“, also „Leistung bringen“. Das hilft jedem Einzelnen gegen die Angst – und ebenso der Gesellschaft. Die Stärkung von Humor, Optimismus und Geduld sowie eine Verankerung im Glauben und Altruismus wurden als weitere Resilienzfaktoren identifiziert. Und: Die gemeinnützige Stiftung für Zukunftsfragen und der Ludwig-Erhard-Gipfel haben im Jahr 2023 explizit German Mut statt German Angst propagiert. Dazu gehören Erziehung und Bildung, die Förderung von Solidarität und gesellschaftlichem Engagement, die Ermutigung zu offenem Dialog und Diskussion, mehr Kompetenz im Umgang mit den Medien, die Förderung von politischer Partizipation, Unternehmertum und Innovation, die Schaffung von offenen Arbeitsbedingungen, die Übernahme von Führungsrollen sowie eine gelebte Fehlerkultur und positive Vorbilder. Das finde ich sehr bedenkenswert.
Wie genau stärkt eine gesunde Religiösität unsere Resilienz? Wie könnten sich die Kirchen gesellschaftlich am besten einbringen, um Hoffnung, Mut und Zuversicht zu stärken?
Die Angst wird in der Bibel als ganz zentrale Emotion des Menschen erkannt und benannt. In Johannes 16,33 heißt es etwa: „In der Welt habt ihr Angst“. Die Angst bleibt aber nicht unaufgelöst. An ganz vielen Stellen, zum Beispiel bei Jesaja 41,10, steht: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott.“ In der Tat zeigen Studien, dass eine religiöse Bindung bzw. Spiritualität hilfreich gegen Angst sein können. Aus meiner Sicht kommt den Kirchen hier durchaus eine wichtige Rolle zu – allerdings weniger auf dem politisch-gesellschaftlichen Parkett als vielmehr in der Erfüllung ihrer genuin seelsorgerischen und damit im besten Sinn psychotherapeutischen Aufgaben.