Wir schauen Papst Franziskus über die Schulter. Eingesunken sitzt er vor dem Altar der Krankenhauskapelle, gekleidet in Albe und violette Stola, sein Blick auf das schlichte Altarkreuz gerichtet. Es ist das erste Bild des Papstes, das an die Öffentlichkeit gelangte, seitdem er vor mehr als vier Wochen mit einer beidseitigen Lungenentzündung in die römische Gemelli-Klinik eingeliefert wurde. Weltweit bangten Menschen um das Leben des Pontifex, Wochen des Auf und Ab. Inzwischen soll sein Zustand stabil sein, auch wenn er das Krankenhaus noch nicht verlassen kann.
Der von Krankheit gezeichnete Papst im Gebet – das Bild passt gut zum Charakter, den Franziskus dem Papstamt seit seiner Wahl vor zwölf Jahren aufgeprägt hat: ein oberster Hirte, dem nicht an rituellem Pomp und Machtinszenierungen gelegen ist, sondern der sich den Schwachen zuwendet und daher auch seine eigene Schwäche zeigt. Damit wäre die Aufnahme beinahe das bessere Buchcover für Franziskus’ Autobiografie, die bereits Mitte Januar erschienen ist. Hoffe heißt das Buch und bündelt die Botschaft des Papstes, auch angesichts schwierigster Herausforderungen – ob Krieg, Zweifel oder eben Krankheit – Gottes Zuversicht in die Welt zu tragen. Denn „die Hoffnung ist das Göttlichste, was im menschlichen Herzen existiert“, so der Papst.
Entstanden ist die Autobiografie in Zusammenarbeit mit dem italienisch-argentinischen Autor und Verleger Carlo Musso, dessen Stimme jedoch hinter der durchgängigen Ich-Form des Textes vollständig verschwindet. Ursprünglich sei die Veröffentlichung erst nach dem Tod des Papstes vorgesehen gewesen, aber das Heilige Jahr und „die Erfordernisse unserer Zeit“ hätten Franziskus schließlich dazu bewegt, „uns dieses kostbare Erbe schon jetzt zugänglich zu machen“, wie Musso im Nachwort berichtet. Es ist das erste Mal, dass die Aufzeichnungen eines Papstes ausdrücklich als Autobiografie betitelt wurden und zudem noch zu dessen Lebzeiten erschienen sind. Niedergeschrieben wurden die Erzählungen aus Franziskus’ Leben seit 2019 und seien die „Frucht unzähliger Begegnungen, Gespräche und Analysen von Texten sowie von öffentlichen und privaten Dokumenten“, so der Co-Autor.
In 25 Kapiteln blickt Jorge Mario Bergoglio auf sein Leben zurück. Dabei betont der heutige Papst, dass Erinnerung nicht nur das sei, „was uns von früher einfällt, sondern auch das, was uns jetzt umgibt“. Er versteht seine Autobiografie als „eine Art Reisetasche“, in der sich Vergangenheit und Gegenwart durchdringen und gegenseitig erschließen. So zeichnet Hoffe nicht nur Franziskus’ Lebensweg nach, angefangen bei seiner Familiengeschichte und den einfachen Lebensumständen in Buenos Aires über die Zeit zunächst als Jesuit, dann als Bischof der argentinischen Hauptstadt bis zu seiner Wahl zum Papst. In der zweiten Hälfte des Buches widmet sich Franziskus auch den zentralen Anliegen seines Pontifikats: der Forderung nach Menschlichkeit gegenüber Migranten und ausgegrenzten Personen, dem Einsatz für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit sowie seiner Kritik an Traditionalismus und Klerikalismus.
Das alles geschieht nicht streng chronologisch oder thematisch strukturiert, sondern eher anekdotisch und sprunghaft. Ein Stil, der gut zu einem Mann seines Temperaments passt und zu einem Pontifex, dem weniger an einem geschlossenen dogmatischen Lehrgebäude liegt als an individuellen Begegnungen mit den Menschen. Franziskus erzählt lebendig und schmückt viele seiner Geschichten detailreich aus. Etwa gleich zu Beginn, wenn er ein tragisches Schiffsunglück Ende der 1920er-Jahre schildert, bei dem mehrere Hundert italienische Migranten ertranken. Die Episode dient ihm als Beispiel für die göttliche Vorsehung, denn eigentlich hätten seine Großeltern zusammen mit seinem Vater an Bord des Schiffs sein sollen. Doch sie hatten sich verspätet und mussten ihre Passage umbuchen. Nur so überlebten sie und gelang ihre Auswanderung nach Südamerika. „Aus diesem Grund bin ich heute hier. Du kannst dir vorstellen, wie oft ich der göttlichen Vorsehung noch zu danken hatte“, resümiert der Papst.
Die Erinnerung an die Auswanderung seiner Familie und die eigenen Erfahrungen, in einem Land als fremd wahrgenommen zu werden, haben Franziskus maßgeblich für das Leid von Migranten sensibilisiert. „Auch ich hätte zu den Ausgeschlossenen von heute gehören können“, so schreibt Franziskus, „daher trage ich im Herzen immer diese eine Frage: Warum sie und nicht ich?“ Diese innere Verbundenheit habe ihn auch dazu gedrängt, seine erste Reise als Papst zu einem der Hauptschauplätze der Flüchtlingskrise zu machen: „Ich musste nach Lampedusa fahren, um dort zu beten, um ein Zeichen der Nähe zu setzen, um meine Dankbarkeit auszudrücken und den freiwilligen Helfern ein Signal der Ermutigung zu bringen, denn diese Menschen zeigten anderen eine ganz konkrete Solidarität. Vor allem aber wollte ich unser Gewissen wecken und auf unsere Verantwortung verweisen.“
Immer wieder widmet sich Franziskus dem Thema der Umkehr. Dabei betrachtet er sowohl eigene Schwächen, etwa wenn er schreibt: „Ein Problem, das ich immer wieder habe, ist meine Ungeduld. Wenn ich gestolpert bin, dann häufig, weil es mir an Geduld fehlte, weil ich nicht abwarten konnte, dass manche Prozesse Zeit brauchen, damit sie sich normal entwickeln und die Früchte heranreifen.“ Zur Sprache kommen aber auch rührende Anekdoten wie die einer früheren Prostituierten, die ihre Berufung in der Altenpflege fand und dem Papst erzählt haben soll, dass sie zwar nicht häufig zur Messe gehe und mit ihrem Körper „viel angestellt“ habe. Nun aber wolle sie sich „der Körper der Menschen annehmen, die sonst niemanden mehr interessieren.“
Vieles von dem, was man in Hoffe liest, war bereits aus früheren Biografien oder Interviews bekannt. So etwa Franziskus’ erneute Absage an ein baldiges Konzil (zuvor müsse erst das Zweite Vatikanum vollständig umgesetzt werden) ebenso wie an den Traditionalismus („das in jedem Jahrhundert neu auftretenden Beharren auf ‚Rückständigkeit‘“) oder seine wiederholte Betonung, dass Homosexualität menschlich sei und Diskriminierung nicht akzeptabel (eine Überzeugung, die den Papst jedoch nicht zur Änderung der offiziellen Lehre bewegt). Auch spielen der Vatikan oder das Verhältnis des Papstes zu seinem verstorbenen Vorgänger kaum eine nennenswerte Rolle. Der britische Vatikan-Experte Austen Ivereigh urteilte gar, das neue Buch verdiene das Prädikat Autobiografie nicht.
Wer auf biografische Enthüllungen oder vatikanische Skandalgeschichten aus ist, dürfte tatsächlich enttäuscht werden. Doch ist das überhaupt nicht das Anliegen des Buches. Hier deutet ein Papst souverän sein Leben und Wirken ausgehend von der Kraft der Erinnerung. Hoffe gibt detailreiche Einblicke in Franziskus’ Denken und stellt besonders mit Blick auf sein fortgeschrittenes Alter und die angeschlagene Gesundheit eine eindrucksvolle Zusammenfassung seines Lebenszeugnisses dar, die zum Umdenken und eigenen Handeln aufruft.