Mit seinem Ahr-Psalm, im Juli 2021, als bei der Flutkatastrophe im Ahrtal auch eine Behinderteneinrichtung in Sinzig betroffen war und dabei ein Verwandter ums Leben kam, hat sich Stephan Wahl, der frühere Wort-zum-Sonntag-Sprecher und ehemalige Direktor des Strategiebereichs „Kommunikation und Medien“ im Bistum Trier, ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Aus Remagen stammend, lebt der Monsignore seit 2018 als Seelsorger und Autor in Ost-Jerusalem und hat dort für einige Jahre das Paulus-Haus in Sichtweite des Damaskustores geleitet – ein Gästehaus des Deutschen Vereins vom Heiligen Land (DVHL). Schon mehrere Gedichtbände hat er vorgelegt, deren Titel für sich sprechen – zuletzt Ungehobelte Gebete (2016), … träume ich von Flügeln – Jerusalemer Gebete (2021) und Erwarte von mir keine frommen Sprüche – Ungeschminkte Psalmen (2022).
Und nun: Lebenskeck mit dem Untertitel Trotz allem, trotz allem, trotz allem (2024). Die dreimalige Wiederholung markiert das Widerborstige, mit dem Wahl seine eigene Sprachlosigkeit und die anderer, mit der er Fassungslosigkeit, Verzweiflung und Wut zu überwinden versucht. Er schreibt dagegen an. Seine Ungeschminkten Psalmen widmete er seinerzeit Thomas Wahl (1966–2021) und allen Opfern der Flutkatastrophe 2021. Die Jerusalemer Gebete sind während der Corona-Pandemie entstanden, als er zwei Lockdowns erlebte und die Quarantänezeit abgeschottet im leerstehenden Pilgerhaus verbrachte, „ein Hybrid aus Kloster und Kreuzfahrerburg“. Es wurde zu seiner Einsiedelei und Schreibwerkstatt. Grenzsituationen scheinen bei Wahl einen Produktionsschub zu bewirken – das Schreiben als Überlebensstrategie.
2023 hatte Wahl das Unfassbare des völkerrechtswidrigen Überfalls Russlands auf die Ukraine in Worte gebracht: Es ist Krieg – ein ratloser Psalm. Auch jetzt, mit seinem neuen Band, der viele verstörende Erfahrungen nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 verarbeitet, ringt er um Worte. In Shu’afat, einem palästinensischen Stadtviertel in Ostjerusalem, hat Wahl die Warnungen per App empfangen, die pausenlos Raketenangriffe anzeigte, bis ihm bewusst wurde, dass es sich um ein beispielloses Massaker von Hamas-Terroristen handelte, das eine israelische militärische Reaktion provozierte, die in einen Krieg ausartete: „Ähnlich wie bei der großen Flutkatastrophe an der Ahr und dem damals entstandenen Ahrpsalm versuchte ich meine Wut, meinen Schmerz, meine Ohnmacht in stotternde Worte zu fassen, und so entstand der Psalm eines zivilen Kriegsopfers, mit dem ich den Psalmteil dieses Bandes beginnen lasse.“
Die einzelnen Texte sind den Abteilungen „Psalmen“, „Gedichte/Meditationen“ und „Gebete“ zugeordnet. „Zu den irritierendsten Erfahrungen der letzten Kriegsmonate“, so Wahl, „gehört für mich die Tatsache, dass ,das Leben einfach so weitergeht‘. Wären die täglichen Horrornachrichten aus dem Süden oder aus dem Norden via Medien nicht und das Erleben der pilger- und touristenleeren Stadt, könnte man vergessen, dass 80 km Luftlinie entfernt täglich immer noch gelitten und gestorben wird. Ich kann es nicht.“
Deswegen schreibt Stephan Wahl. Er weigert sich, sich mit einem „fast normal“ abzufinden. Das macht zum Beispiel der Text Mein ,Es-zerreißt-mich-Advent‘ deutlich: „So vieles hat sich verändert, / so vieles. // Meine Gefühle fahren Achterbahn, / ich surfe zwischen den Fronten, / gehöre auf keine der Seiten / oder wenn, dann auf beide.“ Wahl überspielt auch nicht das eigene Hin-und-Her-Gerissensein: „Und gib meiner verwundeten Seele / irgendein Zeichen, ich flehe dich an. // Damit mein flackernder Glaube / mich nicht endgültig verlässt.“ Oder, unter dem Titel Ratlos warte ich: „Ratlos warte ich / auf heilende Antworten, / doch nichts, was mir helfen könnte, / dringt an mein Ohr.“ Was sind heilende Antworten? Woher kommen sie? Wer gibt sie? „In der Stille suche ich dich, / rätselhafter Gott“, heißt es in Aushalten: „eine Audienz erbitte ich mir, / ich brauche Rat.“ Und die Aussicht: „Vielleicht berührt mich dann doch / der Hauch deiner Nähe, / und ich werfe meine Fragen nicht / in ein dunkles Nichts.“
Auf 171 Seiten findet sich viel Nachdenklichkeit und Trost – gerade weil fromme Klischees oder platte Worthülsen fehlen, weil bohrendes Fragen ebenso begegnet wie Zweifel („und ich ahne / du antwortest // ja / so nicht“), weil vermeintliche religiöse, theologische oder spirituelle „Sicherheiten“ abgeklopft werden auf ihre Lebenstauglichkeit und Alltagsrelevanz: „Selig, die leben / was sie glauben.“ Manche Gebete haben ganz konkrete Anlässe: Pfingstwunsch, Schreigebet, Wintergebet, Antoniusbitte, Der schwule Sohn, Hochzeitssegen, unisex, Gebet zur Trennung oder Gesegnet: „Gesegnet bist du, so wie du bist. / Gott kennt dich. / Er hält dich aus. // Und gibt dir Atem.“
Seine eigene Wortschöpfung Lebenskeck war ursprünglich programmatisch gedacht als Sammlung für einen Band mit „ermutigenden“ Texten. Der 7. Oktober 2023 hat das verändert. Aber Stephan Wahl hat daran festgehalten: „Damit die Hoffnung trotz allem, trotz allem, trotz allem niemals erlischt.“