Kommentar zum VölkerrechtIm eigenen Interesse mit Israel reden

Soll der israelische Regierungschef Deutschland besuchen können? Benjamin Netanyahu wird vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) per Haftbefehl gesucht. Er müsste festgenommen und ausgeliefert werden. Berlin sollte in deutschem Interesse handeln und nicht auf Prinzipien beharren, kommentiert der Historiker Rafael Seligmann.

Soeben wurde Israels Ministerpräsident zum Staatsbesuch in Ungarn empfangen. Anschließend konferierte Netanyahu in Washington mit seinem politischen Geistesverwandten Donald Trump. Der zukünftige Bundeskanzler Friedrich Merz erwägt ebenfalls, den Israeli willkommen zu heißen.

Wie soll Berlin handeln? Das internationale Rechtssystem fordert unmissverständlich die Auslieferung Netanyahus wegen Kriegsverbrechen. Doch neben der vermeintlich klaren Position des ICC gibt es auch andere politische und moralische Erwägungen. Einen bleibenden Maßstab erhob Jesus: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

Der Vers aus dem Johannesevangelium (8,7) ist keineswegs überholt. Deutschlands Demokratie ist nicht mit dem populistischen System in Ungarn und der gegenwärtigen Situation in den Vereinigten Staaten gleichzusetzen, wo Präsident Trump versucht, das Land auf seine politischen Bedürfnisse und das, was er als US-Interessen interpretiert, zuzuschneiden. Zudem waren die USA nie Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs und erkennen dessen Hoheit nicht an. Premier Orbán lud seinen politischen Kumpel Netanyahu ein, um einen Anlass zu haben, die Organisation zu verlassen. Deutschland aber akzeptiert die internationale Rechtsordnung, inklusive des ICC. Würde die Bundesregierung Israels Regierungschef einladen, müsste Berlin mit einem Festnahmebegehren rechnen.

Der ICC nahm 2002 seine Tätigkeit auf. Bislang standen erst zwei bekannte Politiker vor Gericht: der Serbe Slobodan Milošević sowie der einstige Militärdiktator Liberias Charles Taylor. Beide führten Angriffskriege. China ist wie Indien nicht Signatarmacht des ICC. Darum gab der ICC-Ankläger Karim Khan vor, weder gegen Putin noch gegen Chinas Diktator Xi Jing Ping, wegen des Vorgehens gegen die uigurische Minderheit, ein Verfahren einleiten zu können. Ebenso wenig wie gegen den türkischen Präsidenten Erdoğan. Ankara führt Feldzüge gegen die Kurden – auch außerhalb des Landes. Faktisch entscheidend ist, dass der ICC es nicht wagt, Diktatoren mächtiger Staaten anzugehen. Israel ist keine Großmacht. Das darf Premier Netanyahu nicht vor einer Anklage wegen Kriegsverbrechen bewahren. Auch wenn Israel nach dem Terrorangriff des 7. Oktober 2023 einen legalen Verteidigungskrieg begann. In jedem Krieg werden von allen Beteiligten Verbrechen begangen. Das musste auch Deutschland erfahren, als Oberst Klein 2009 aufgrund einer falschen Einschätzung in Afghanistan Zivilisten töten ließ, die er als Terrorverdächtige einschätzte.

Berlin muss gemäß seinen Interessen abwägen. Zwischen unterschiedlichen Wertungen des ICC-Anklägers Karim Khan gegenüber Großmächten und Israel, dessen Armee zweifelsohne weiterhin Kriegsverbrechen in einem Krieg begeht, der vor allem im Interesse der betroffenen Menschen rasch beendet werden muss, sowie den langfristigen deutsch-israelischen Beziehungen. Nur wenn man miteinander spricht, kann man eventuell den Krieg in Nahost beilegen und das zwischenstaatliche Verhältnis stabilisieren. Deutschland sollte diese Gelegenheit ergreifen, statt auf Prinzipien zu reiten.

Anzeige: Wer's glaubt ... Meine Seligpreisungen. Von Beatrice von Weizsäcker

Christ in der Gegenwart im Abo

Unsere Wochenzeitschrift bietet Ihnen Nachrichten und Berichte über aktuelle Ereignisse aus christlicher Perspektive, Analysen geistiger, politischer und religiöser Entwicklungen sowie Anregungen für ein modernes christliches Leben.

Zum Kennenlernen: 4 Wochen gratis

Jetzt gratis testen