Lucia lacht. Sie freut sich sichtlich über die vielen Kinder, über die Musik, über die Lichter in der geschmückten Kirche. Lucia ist sechs Monate alt und kann nicht wissen, was die Riten bedeuten, die an ihr vollzogen werden. Es sind ihre Eltern, die wollen, dass Lucia auf den Tod und die Auferstehung Jesu getauft und damit in die Kirche aufgenommen wird. Es wird viele Jahre dauern, bis Lucia diese Entscheidung zu der ihren machen kann. In der Zwischenzeit wird sie Geschichten aus der Bibel hören und mit ihren Eltern und Geschwistern in den Gottesdienst gehen. Sie wird am Religionsunterricht teilnehmen, und es wird ein Fach sein wie jedes andere, bis sie den Anspruch des Christentums begreift und die Lehren der Kirche in Frage stellt. Das muss sie tun, wenn sie den Glauben nicht unüberlegt annehmen soll, wie Paulus im ersten Korintherbrief warnt (vgl. 15,2). Lucias Weg ist der Weg der meisten Christen in einer Kirche, die sich über Jahrhunderte als kulturelle und gesellschaftliche Größe etabliert hat, auch wenn sie sich in jüngerer Zeit heftig angefochten erlebt.
Heftig angefochten erlebte auch Paulus nach eigener Auskunft seinen Glauben, der alles andere als selbstverständlich war. Es gab keine Kirche, die ihm hätte Schutz und Bestätigung geben können, denn auch die Kirche des Anfangs war angefochten. Paulus selbst hatte sie geradezu „maßlos“ verfolgt und bedroht. So jedenfalls erzählt er es im Brief an die Galater (1,13). Dann habe sich etwas ereignet, mit dem er nicht rechnen konnte: Er begegnet dem Auferweckten, dem Grund seines Verfolgungseifers, der Kränkung seiner jüdischen Seele.
Paulus war römischer Bürger, doch als Jude konnte er seinen Gott nicht in das römische Pantheon stellen. Und schon gar nicht konnte er ihn auf eine Ebene mit einem sterblichen Menschen stellen. Ihm war es nicht nur unmöglich, an einen Gekreuzigten zu glauben – es war ein Skandal. Die Erfahrung, von der er berichtet, dürfte den meisten Menschen fremd bleiben, die wie Lucia Schritt für Schritt und ganz unspektakulär in den Glauben hineinwachsen, ganz ohne Visionen und vielleicht mit mehr Fragen als Gewissheiten. Doch auch Paulus musste glauben lernen. Eine höchst individuelle, unhintergehbare Erfahrung reicht nicht. Darum „habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe“, schreibt er (1Kor 15,3). Paulus war angewiesen auf den Glauben anderer, um zu verstehen, was ihm widerfahren war.
Der Theologe und Autor Wilhelm Bruners, der lange im Heiligen Land gelebt hat, ist sogar davon überzeugt, dass auch Jesus glauben lernen musste. Als Mensch musste er die jüdische Überlieferung durchbuchstabieren, um sich selbst darin zu erkennen und verkünden zu können: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4, 21). Wann dieses Heute, diese Gewissheit im Leben eines Menschen eintritt, lässt sich nicht vorhersagen. Vermutlich ist es nicht ein einziger Moment, sondern eine Reihe von Erfahrungen, die sich im Lauf des Lebens zu einer wachsenden Gewissheit verdichten. Der Glaube ist ein Geschenk, das aber nicht vom Himmel fällt, sondern geduldig erlernt werden will.