Christoph Heusgen ist das Lachen vergangen. „Ein europäischer Alptraum“ sei die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) gewesen, gab der Vorsitzende gegenüber dem heute-journal zu Protokoll. Vor einigen Jahren hatte er in seiner damaligen Funktion als deutscher UN-Botschafter noch über US-Präsident Donald Trump gelacht, als dieser die europäische Abhängigkeit von russischem Gas bemängelte. Heute empfängt Heusgen erneut den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenkyj, der den europäischen Kardinalfehler von damals ausbügeln muss und hat erkennbar Bauchschmerzen angesichts der Rede, mit der Vizepräsident Vance die Anwesenden schockiert.
Zu diesem Zeitpunkt saßen die meisten Journalisten im Pressezelt vor den Übertragungsmonitoren aus dem Konferenzsaal, mal mehr, mal weniger engagiert zuhörend. Vance’ Rede war das erste Highlight des Eröffnungstages der Sicherheitskonferenz. Bisher hatte man die erwartbaren Worte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier oder Ursula von der Leyen eher routiniert über sich prasseln lassen. Bei Vance wurde es interessanter: Würde er einen großflächigen Rückzug amerikanischer Truppen aus Europa ankündigen? Eine neue Strategie für die Ukraine? Die Spannung war spürbar. Und Vance unterlief alle Erwartungen, indem er statt über Außenpolitik zu reden, Europa lieber die Leviten las und eine Bedrohung „von innen“ und das scheinbare Ende der Meinungsfreiheit anprangerte. Wer nicht wisse, was er zu verteidigen habe und Angst vor dem eigenen Wähler verspüre, so Vance, für den könne man „nichts tun“.
Der Schock, der am Konferenz-Freitag von Vance’ Rede ausging, die jetzt schon als semi-legendär gelten darf, ist seither oft beschrieben worden. Kritik an der eigenen Auffassung von Meinungsfreiheit und Demokratie verbat man sich entschieden. Doch darum ging es im Grunde gar nicht. Vance hatte einen Punkt: Man redete gerne über Werte, welche das aber genau sein sollten, darüber gab es kaum Anhaltspunkte. Sicher ist nur, dass Europäer und US-Amerikaner nicht unbedingt dieselben teilen. Besonders deutlich wurde das wiederum in Gestalt Wolodymyr Selenskyjs. Unnachgiebig wie stets forderte er eine europäische Armee und umfassende Sicherheitsgarantien für sein Land. Außer Lippenbekenntnissen gab es für ihn in dieser Frage aber wenig zu holen. Europa kann sich nicht auf Truppen einigen, Sicherheitsgarantien bleiben vage. Die Amerikaner hingegen schickten sich in den vergangenen Tagen an, Fakten zu schaffen: auf dem Rücken der Ukrainer, ohne Rücksicht auf die Europäer, in einer Geschwindigkeit und Rücksichtslosigkeit, die atemberaubend ist. Gemeinsame Werte jedenfalls sehen anders aus.
Geopolitik ist interessengeleitet und hochgradig egoistisch. Der stets dogmenhaft vorgetragene Konsens des Westens hat deutliche Risse bekommen, wenn er denn je existiert hat. Das in aller Deutlichkeit aufgezeigt zu haben, ist zumindest das Verdienst von J.D. Vance. Es wird in Zukunft mehr als die freundlich-unverfänglichen Worte älterer Staatslenker brauchen, um auf die Sorgen und Nöte beispielsweise der Ukraine zu reagieren. Eine „Zeitenwende“ immer nur zu behaupten, aber keine Handlungen folgen zu lassen, wird jedenfalls nicht reichen. Insofern kann aus dem „europäischen Alptraum“ Heusgens vielleicht ein längst fälliges europäisches Erwachen werden.