Heilende Schriften

Treffsicher wie so oft nannte Heinrich Heine die Bibel  „die Hausapotheke der Menschheit“. Alles, was darin geschrieben ist, sei „um unseres Heiles willen“ gesagt, betont die Christenheit seit ihren Anfängen, ganz in der Spur jüdischer Glaubensüberzeugung. Man müsse in die biblischen Texte einsteigen wie in die Badewanne: so wie da der Wasserpegel um den Körperumfang steige, so dort der Textpegel um den eingebrachten Hunger nach Erleuchtung und Gesundung (so der große Neutestamentler Ernst Fuchs). Was liegt da näher, als die therapeutische Dimension biblischer Texte zu unterstreichen und ihre anamnetische wie dia- und prognostische Kraft zu erschließen. Die erfahrene Musiktherapeutin, in Psychologie und Theologie promoviert, nimmt das Ganze der Bibel in den Blick, wählt aber besonders die großen narrativen Texte des Alten Testamentes und aus dem Neuen mit besonderer Vorliebe das Lukas-Evangelium  und Paulus-Texte aus. In der Tat: Man kann den Trostcharakter dieser heiligen und heilenden Schriften nur verstehen, wenn man als Notenschlüssel ihrer Entstehung Schock- und Rettungserfahrungen wie das babylonisches Exil und die Kreuzigung Jesu wahrnimmt und erschließt; sie sind Ausdruck von gelingender Leidbewältigung und haben deshalb heilende Kraft. Mit Recht hebt Renz immer auf das leitende Gottes- und Selbstbild ab. Deutlich wird der biblische cantus firmus, dass Gewalt und dahinter Angst die Ursache für all das sind, was krank macht und zerstört. Biblische Texte in diesem Sinn als „Krisenverarbeitung“ zu lesen und quasi als Medikament vorzulegen, ist zweifellos ein produktiver Ansatz - eine heilsame Art geistlicher Schriftlesung. Dank Fachwissen und Empathie kann die Autorin wichtige Hinführungen geben - keineswegs nur für unmittelbar von Krankheit Betroffene, sondern auch für „unheilbar Gesunde“ (wie Adorno einmal frech formulierte).

Alle Texte, sorgfältig übersetzt, erhalten jeweils eine eigene Einleitung „zum geschichtlichen Zusammenhang oder zu einem hintergründigen Bewusstseinsprozess“ und werden mit hilfreichen Impulsen für die persönliche Aneignung versehen. Die immense Vermittlungsarbeit der Autorin ist spürbar von einer begeisterten Liebe zur Bibel und zu den Kranken geprägt und will helfend inspirieren. Wie der Untertitel schon verrät, sind besonders  therapeutische Erfahrungen und Perspektiven  prägend, stark auf der Spur von Carl Gustav Jung und dem  frühen Drewermann. Nicht zuerst historisch kritische Verfremdung, sondern empathische Unmittelbarkeit prägen die eher symbolisch – allegorisierende Lesart. “Man muss sie mit kindlichen Sinnen auf sich wirken lassen, so wie schon die Menschen vor 2000 oder 2500 Jahren sie gehört haben mochten.“ Auch ein bestimmtes Verständnis von Mystik schwingt mit, entsprechend dem Jesus-Buch der Autorin. Gesucht wird also immer der mystische Sinn der heilenden Schriften – gemäß dem uralten Grundsatz, die Bibel solle genau in dem Geist gelesen werden, in dem sie geschrieben ist, also „für uns und um unseres Heiles willen“.  Dass das politische und soziale Kontextualisierungen einschließt, ist stets präsent, und kann durch eine historisch-kritische Kommentierung etwa der Stuttgarter Bibel gut vertieft werden.

Entstanden ist ein beeindruckendes Dokument persönlicher Schrifterschließung, das vielen neue Zugänge zur Bibel ermöglichen wird. Dazu trägt die schöne Gestaltung bei, mit unterschiedlichen Schriftfarben und  farbigen Abbildungen – im Grunde ein  Pionier-Unternehmen, das weitere interdisziplinäre Anstrengung vieler Fachleute braucht. Dieser eher therapeutisch-lebensweltliche Zugang ist äußerst wichtig, die schöne Gestaltung der umfangreichen Auswahl und ihre Gestaltung mit farbigen Bildern und unterschiedlichen Schriftfarben laden ein.

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Renz, Monika

KrankenbibelSich selbst und Gott finden

Freiburg: Herder 2022, geb. 512 S mit farbigen Abbildungen, ISBN 978-3-451-39106-4

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