Zu den heikelsten Seiten unserer Existenz gehört das Verhältnis zu den Mitgeschöpfen, speziell den Tieren. Während kein Zweifel darüber besteht, dass wir Menschen der Natur entstammen und sie gleichzeitig mit unseren geistigen Fähigkeiten durchdringen, ist Tiersein nicht einfach zu bestimmen. Auch deshalb nicht, weil wir es sind, die über die Mitgeschöpfe nachdenken und dabei notwendigerweise eine Beobachterposition einnehmen. Es liegt nahe, das Menschsein als Maßstab zu nehmen, wobei – die uns letztlich fremden – Tiere dann sehr schnell zu Mängelwesen degradiert werden, die irgendetwas „nicht“ können. Markus Gabriel, der 1980 geborene Denker, der zu den spannendsten Stimmen der gegenwärtigen Philosophie gehört, kann diesem Dilemma auch heiter begegnen. Er stellt sich eine Schwalbe vor, die uns freundlich zulächelt und sagt: „Mag sein, dass ihr gut in Mathematik seid, aber ihr verlauft euch doch ohne Navi selbst auf einem Bierdeckel, und ich fliege zielsicher von Kontinent zu Kontinent. Das nenne ich mal Verstand!“ Ja, so kann man das sehen, was den Einwurf nicht ausschließt, dass es wiederum ein Mensch ist, der sich diese Szene vorstellt, über Stärken und Schwächen sinniert. Die Fähigkeit zu reflektieren, Komplexes wie Banales in Sprache zu packen und zu kommunizieren, ist ein wesentliches Kennzeichen des Menschseins. Sie trug auch dazu bei, dass wir uns an die Spitze der Nahrungspyramide gesetzt haben und Tiere in der Regel bedenkenlos verspeisen. Mehr noch: Unsere hochentwickelte Technologie, die nicht selten auf genialen Einsichten in die Funktionsweise der Natur beruht, trägt seit geraumer Zeit dazu bei, die Erde „aufzuheizen“, sie nach und nach zu einem lebensfeindlichen Ort zu machen. Höchste Zeit, solche fatalen Zusammenhänge zu durchschauen und unser Tun zu revidieren – so lässt sich Gabriels Maxime wohl umschreiben.
„Nun sind wir Menschen diejenigen geistigen Lebewesen, die ihr Leben im Licht einer Vorstellung dessen führen, wer wir sind und wer wir sein wollen.“ In dieser schlichten Bestimmung lassen sich eine moralische Implikation und ein Verweis auf unseren Freiheitsraum entdecken. Unser Bild vom Menschen ist ja nichts Festgefügtes, es wandelte sich vielfach im Laufe der Geschichte. Zudem macht uns gerade unsere zweifache Bestimmung als Natur- und Geistwesen „zu Teilnehmern an einem komplexen Geschehen, das unsere Fassungskraft letztlich immer übersteigt“. Aus alldem und angesichts der Gefahr der „Selbstausrottung“ folgt für den Philosophen, dass das Verhältnis von Mensch, Tier, Natur und Wirklichkeit auf den Prüfstand gehört. Dazu zählt speziell die „falsche“ Auffassung, „die den Menschen primär als Zuschauer, als Teil einer Wirklichkeit versteht, die von der Natur entkoppelt ist“. Nein, betont Gabriel, die Umwelt ist nicht lediglich um uns herum, sondern auch in uns – „man denke nur an die vielen Organismen, die uns bevölkern, oder den schieren Umstand, dass wir selbst Teile physikalischer Felder sind“. Einer solchen gedankenreichen Analyse folgt kein handliches Rezept, wie wir „ein nachhaltigeres, ruhigeres und letztlich auch spirituelleres Leben“ führen könnten. Doch ist Gabriel ein guter Wegweiser.
Sein erster Hinweis besteht darin, die grandiosen Erfolge der Naturwissenschaft und Technologie nicht als Garanten dafür zu nehmen, dass sich in derselben Spur auch die Lösung all unserer – durch sie bewirkten! – Probleme finden lässt. Damit plädiert Gabriel für keine wie auch immer geartete Wissenschaftsfeindlichkeit. Wissen ist gut, doch nur ein aufgeklärtes Wissen, das den technologischen Fortschritt nicht länger vom philosophisch-ethischen Nachdenken entkoppelt. Gerade an der Digitalisierung, die dabei ist, unsere Moderne in allen Bereichen durchzupflügen, lassen sich die üblen Folgen einer Entkoppelung aufzeigen. Nicht nur produzieren Verarbeitung und Speicherung der ungeheuren Datenmengen „gefährlichen Dreck und CO2“. Die Allgegenwart von Fake News und sonstigen Formen von Desinformation ist hochgefährlich – und steckt vermutlich erst in den Kinderschuhen (man denke nur an die neuen Programme aus der KI-Entwicklung wie ChatGPT!). Wird es zu einer neuen gesellschaftlichen „Zielvorstellung“ kommen, zu einer „Vision des Guten“?
Erstaunlicherweise greift der Philosoph in einem eigenen Kapitel das scheinbar verstaubte Wort vom „Sinn des (Über-)Lebens“ auf. Keinesfalls haben, so Gabriel, die Naturwissenschaften diese urmenschliche Frage in die eine oder andere Richtung geklärt. Die Annahme oder Ablehnung eines „einheitlichen, allumfassenden kosmischen Bewusstseins“ sprenge genauso den Rahmen der Naturwissenschaften wie die Frage nach der Endgültigkeit des Todes: „Wer den Naturwissenschaften zutraut, die Transzendenz abgeschafft zu haben, ist Opfer einer maßlosen Überschätzung der menschlichen Erkenntniskraft.“ Für Markus Gabriel stellt sich die Frage, ob es neben dem Sinn „im“ Leben, den jeder erfahren kann – beim Angeln, im Pflegeberuf, als Familienmensch oder Bergsteiger –, auch einen übergreifenden Sinn „des“ Lebens gibt. Die klassisch-religiöse Antwort, die auf Gott, den Schöpfer, verweist, lehnt der Philosoph durchaus freundlich ab: Wir wissen einfach nicht genug, um hier eine allgemein akzeptable Marke zu setzen! Den besonnenen Agnostizismus behält Gabriel durchgehend bei. Gleichwohl ist ihm die Erfahrung von Sinn „Ausgangspunkt all unseres Denkens und Handelns“. Von hier aus sucht er eine „politische Utopie“ zu entwerfen, die das Menschenrecht in den Mittelpunkt stellt, ein Leben zu führen, das Sinnerfahrung ermöglicht – und das primär auf eine qualitative Weise, die „langfristige Ziele der Selbstbildung“ verfolgt. Das ist alles andere als trivial, verlangt beispielsweise eine lebbare Bestimmung der „autonomen“ Handlungsfelder des Einzelnen wie der gesellschaftlichen Grenzziehungen und Kooperationsangebote: „Wir sollen demnach versuchen, einen Lebenswandel anzustreben, der es uns und anderen ermöglicht, gemeinsam am moralischen Fortschritt der Menschheit zu arbeiten.“ Es bedarf nicht viel Phantasie, solche abstrakt scheinenden Prinzipien in konkrete Übungen umzusetzen – mit Blick auf unsere Mitgeschöpfe, unsere Konsumgewohnheiten, unsere Spiritualität.
Das gelehrte Buch, das freilich jeder Lesemühe wert ist, endet mit einem Kapitel, das von einer Ethik des Nichtwissens, ja von der Demut spricht. Wir haben zu akzeptieren, dass uns die Natur – deren Teil wir sind! – zutiefst fremd bleibt, dass wir das Ausmaß unseres Wissens wie Nichtwissens niemals präzise erfassen können. Das müsse „einen tiefen Respekt vor der Andersheit der Natur“ bewirken, das Gegenteil also einer Haltung, die in der Natur eine riesige Maschine und ein Reservoir von leblosen Rohstoffen erblickt. Rationalität, jene so rätselhafte wie wunderbare menschliche Fähigkeit, müsse also „eingehegt“ werden, habe sich auf ihre Grenzen und Grauzonen zu besinnen, um aus dem Hamsterrad des besinnungslosen Gebrauchens auszusteigen: „Denn wir können auch anders, wir sind keinesfalls in unserem schieren Überleben darauf angewiesen, Gänse zu stopfen oder Legehennen unter unwürdigen Verhältnissen zu zwingen, Eier für uns zu produzieren.“ Ja, so konkret kann ein Freund der Weisheit heute sprechen. Wenn Gabriel die „Idee des Guten“ wiederaufnimmt und den „Sinn des Lebens“ präzisiert, dann findet er Anschluss an ehrwürdige Traditionen, die die Vernünftigen inspirieren und vereinen.