Schon 1994 glaubte der Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz, eine „Gotteskrise“ feststellen zu können: „Wir haben heute eine Kirchenkrise; aber viel entscheidender ist doch: Es gibt eine Gotteskrise. Diese Krise ist kein Kirchenproblem, sondern ein Menschheitsproblem. Es gibt einen Atheismus, der Gott im Munde führen kann, ohne ihn ernsthaft zu meinen.“ Vier Jahre später kam der Freiburger Sozialwissenschaftler Michael N. Ebertz zu dem gleichen Ergebnis: Alle einschlägigen sozialwissenschaftlichen Erhebungen belegen „eine Beschleunigung der Erosion des Gottesbegriffs als einer Grundkonsensformel in der Bevölkerung, eine Pluralisierung der Gottesbilder und vor allem, dass spezifisch christentümliche Gottesvorstellungen immer weniger einen gesellschaftlichen Grundkonsens abgeben können, da sie in Ostdeutschland massivst - mit Zweidrittelmehrheit - abgelehnt, aber auch in Westdeutschland nur noch von einer Minderheit mit Zustimmung akzeptiert werden.“
Noch vor einem Jahr sagte Kardinal Karl Lehmann von Mainz bei einem Vortrag: „Bald nach dem Konzil wurde deutlich, dass die Gottesfrage in eine grundlegende Krise kam. Das Konzil konnte noch relativ beruhigt von Gott reden und das Bekenntnis an ihn voraussetzen. Inzwischen sind alle Selbstverständlichkeiten, wenn sie es je waren, in diesem Bereich Vergangenheit. Eine schleichende Säkularisierung, die sich steigert, aber keineswegs unumkehrbar sein muss, hat auch radikal und tief das religiöse Bewusstsein erfasst. Alles kommt darauf an, stets wieder von neuem das Antlitz des lebendigen Gottes zu suchen. Darum steht eine Erneuerung der Frage nach Gott an erster Stelle aller Aktivitäten.“ Und Kardinal Walter Kasper, bis vor kurzem Präsident des päpstlichen Einheitsrates, bekräftigte unlängst diesen Befund: „Ich frage mich, wie man … von der gegenwärtigen Situation und ihren Nöten sprechen kann, ohne das zu nennen, was Johann Baptist Metz schon vor Jahrzehnten die Gotteskrise genannt hat.“
Die Ursachen für diese „Gotteskrise“ sind vielfältig. Zum einen mag es daran liegen, dass Menschen in einer industriellen Welt einen ländlich-bäuerlich geprägten Gott, wie er sich in der Bibel darstellt, nicht mehr erfahren können. „Mit einem aufgeklärten Bewusstsein kann man nicht spontan in archaische Mythen eintauchen. Raumzeitlich und im Bewusstsein weit entfernt von nomadischen Völkern, kann der verstädterte Mensch keinen Wüstengott erfahren“, schrieb einmal der Autor Paul Konrad Kurz. Doch die Krise der Gotteserfahrung, hervorgerufen durch ein verändertes Bewusstsein und eine andere Lebenssituation, wird durch die Tatsache dramatisch verschärft, dass „der ins Leben fließende Gott Abrahams“ durch seine Verkündiger „kanalisiert“ wurde „in Orthodoxie, enggeführt, aufgestellt, geufert in kirchlichen Konkretionen. Der Wegegott wurde eingesperrt in Denk- und Verhaltensschemata. Er musste sich niederlassen als Ansässiger, dem die Verwaltung über die Schulter schaut.“ Ist folglich die Gotteskrise in aufgeklärten Gesellschaften vielleicht (nur) „die Krise des Kirchengottes, des fixierten, katechetisch abgepackten, obrigkeitlich überwachten, zensurierten, verwalteten Gottes?“, fragt der Schriftsteller Kurz.
Diese Frage erscheint allzu berechtigt. Karl Rahner, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, sagte in seinem letzten Vortrag über die „Erfahrungen eines katholischen Theologen“ wenige Wochen vor seinem Tod: „Wir reden von Gott, von seiner Existenz, von seiner Persönlichkeit, von drei Personen in Gott, von seiner Freiheit, seinem uns verpflichtenden Willen und so fort … Aber bei diesen Reden vergessen wir dann meistens, dass eine solche Zusage immer nur dann einigermaßen legitim von Gott ausgesagt werden kann, wenn wir sie gleichzeitig auch immer wieder zurücknehmen, die unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein als den wahren und einzigen festen Punkt unseres Erkennens aushalten und so unsere Aussagen immer auch hineinfallen lassen in die schweigende Unbegreiflichkeit Gottes selber.“
Die alten Gottesbilder haben ihre Aussagekraft und ihre Allgemeinverbindlichkeit verloren. Keine Religion, keine Konfession, keine einzelne Glaubensgemeinschaft kann noch ernsthaft behaupten, über das allein gültige und richtige Gottesbild zu verfügen. Keine Gruppe kann sich als die einzig sehende hinstellen und alle anderen als Blinde abqualifizieren.
Der tschechische katholische Religionsphilosoph Tomáš Halík hat bei der Verleihung des Guardini-Preises der Katholischen Akademie in Bayern einen bemerkenswerten Vortrag gehalten. Die Abwesenheit Gottes lasse sich verstehen als „Tod Gottes“ oder als „Gottes Schweigen“. Der „Tod Gottes“ wurde literarisch von Friedrich Nietzsche verkündet. Dieser verstand sich als Beobachter. Er analysierte seine Zeit, vor allem die seiner Auffassung nach inzwischen marode gewordene (christliche) Zivilisation.
Halík erinnerte an die evangelische Theologin Dorothee Sölle, die den Gedanken einer „Stellvertretung des abwesenden Gottes“ aufbrachte. In ihrem Buch „Stellvertretung“ greift sie Nietzsches Metapher vom „Tod Gottes“ auf und umschreibt damit den Verzicht auf ein überholtes Gottesbild. „Die Herausforderung, die der Tod Gottes darstellt, kann auf zwei verschiedene Weisen beantwortet werden: … Entweder man nimmt seine Abwesenheit als seinen Tod und sucht oder schafft sich Ersatz, oder aber man nimmt seine Abwesenheit als eine Möglichkeit seines Seins-für-uns.“ Der Stellvertreter sei zu unterscheiden vom Ersatzmann. Der Stellvertreter „repräsentiert“ und vergegenwärtigt während der Abwesenheit des Vertretenen diesen. Er weist auf den Vertretenen hin. Der Ersatzmann macht den Ersetzten überflüssig (als wäre er tot). „Christus vertritt den abwesenden Gott, solange dieser sich nicht bei uns sehen lässt. Vorläufig steht er für Gott ein, und zwar für den Gott, der sich nicht mehr unmittelbar gibt und uns vor sein Angesicht stellt, wie es die religiöse Erfahrung früherer Zeiten als erlebt bezeugt. Christus hält diesem jetzt abwesenden Gott seine Stelle bei uns offen.“
Halík nannte noch eine andere Art von „Stellvertretung Gottes“: „In einer Zeit, in der Gottes Abwesenheit den Menschen besonders bedrängt, kann der Mensch dem Ruf Folge leisten, Gott in der Welt zu repräsentieren - nach Christi Vorbild und mit Ihm verbunden. Dies bedeutet nicht, ‚Gott zu spielen', eine God like position anzunehmen. Es bedeutet, ‚wie Gott zu sein', der in seiner großzügigen, bedingungslosen Liebe alle Grenzen überschreitet (er lässt die Sonne scheinen und den Regen fallen über Gute wie Böse). Es bedeutet, an Gott zu erinnern, wie ein Zeichen zu leben, das eigene Leben in eine ‚Erinnerung' zu verwandeln, in eine vergegenwärtigende Erinnerung, in ein Zeugnis für Gott und eine Bezeugung Gottes.“
Halík erinnerte auch an ein Wort von Papst Benedikt XVI.: Jene, die nicht fähig sind, den Weg zur Annahme Gottes zu finden, sollten versuchen, so zu leben, „als ob es Gott gäbe“. Für den Religionsphilosophen bedeutet das, „als wirklich freier Mensch zu leben - das heißt, die Freiheit auch für sich zu behaupten, in der Freiheit zu stehen und sich nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen zu lassen -, es bedeutet dreierlei: nicht abhängig zu sein (Abhängigkeit loszuwerden) und nicht eigenwillig (Eigenwillen loszuwerden) und vor allem verantwortlich zu sein. Ein solches Leben ‚impliziert Gott': Das eigene Leben so zu leben und auszurichten bedeutet de facto, ‚es auf die Anwesenheit Gottes zu öffnen'; im Leben eines so lebenden Menschen ‚lebt' immer auch Gott - die Freiheit ist sozusagen die eigentlichste Biosphäre Gottes, sein Lebensraum.“ Die zentrale Botschaft der Bibel sehe ich darin, dass Gott den freien Menschen wollte, obwohl er wusste, welche Risiken mit der Freiheit verbunden sind und was der Missbrauch dieses Geschenks alles mit sich bringen wird.
Gott, so Halík, ist gewiss „überall“ anwesend, aber „außerhalb des Reiches der Freiheit“ ist nicht „sein“ Raum. Wo die Freiheit verbannt wurde, ist auch Gott „im Exil“. Gott ruft zum Exodus aus der Knechtschaft ins gelobte Land. Erst im Haus des freien Menschen ist auch Gott „zu Hause“. Ubi libertas, ibi Deus est. Er lebt in der Freiheit und im Durst nach ihr. Er ist dort, wenn auch nicht erkannt, nicht benannt, nicht mit Namen angerufen und nicht gezielt eingeladen. Er ist dort auch als Verborgener Gott ‚Deus absconditus' oder als Unbekannter Gott (vom Menschen vielleicht ‚bloß als Hypothese zugelassen').“
Halíks Gedanken einer „Stellvertretung“ des verborgenen und unbekannten, scheinbar abwesenden Gottes durch den „wirklich frei lebenden Menschen“ lässt sich vielleicht ergänzen durch den Hinweis, dass Gott auch dort ist, wo die Liebe ist: Ubi caritas et amor, ibi Deus est. Die christliche Urgemeinde galt als „Gemeinschaft der Liebe“ (vgl. Apg 4,32). Die Konflikte - die es auch damals schon gab und deren Aufkommen eine natürliche Sache ist - wurden durch Verhandlungen und einmütige Beschlüsse gelöst. Der Umgang mit der Macht war von dem Beispiel und der Ermahnung Jesu geleitet: „Nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Schwestern und Brüder“ (Mt 23, 8b).
In der Erzählung „Wo die Liebe ist, da ist auch Gott“ von Leo Tolstoi hat der Schuster Awdejitsch einen Traum, in dem Jesus ihm verkündet, er solle morgen auf die Straße blicken, denn er will zu ihm kommen. Awdejitsch wartet den ganzen Tag. Aber kein Christus kommt. Er sieht nur einen alten Soldaten, der Schnee schaufelt und friert. Awdejitsch bittet ihn herein, gibt ihm Tee zu trinken und lässt ihn sich aufwärmen. Dann bemerkt er eine fremde Frau mit einem Kind, das vor Kälte schreit. Auch die beiden holt er in die warme Stube und gibt der Fremden eine Jacke mit. Schließlich schlägt vor seinem Fenster eine Marktfrau einen Jungen. Awdejitsch läuft nach draußen und schlichtet den Streit. Am späten Abend erscheint ihm Christus erneut und fragt ihn: „Hast du mich erkannt?“ Und dann tauchen nacheinander alle Menschen auf, denen Awdejitsch begegnet ist. Der alte Schuster bekreuzigt sich, schlägt das Evangelium auf und liest „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!“
Die Gotteskrise kann zur Chance der Erneuerung des Glaubens an Gott und der Rede von Gott werden. Viele Menschen sind dabei, aus ihren erlernten religiösen Konventionen auszubrechen und jene Gottesbilder abzustreifen, die dem Denken und der Praxis des Alltags nicht mehr standhalten. „Es geht um Gotteskritik um des wahren Gottes willen“ (Hermann Häring). Gott ist dort abwesend, wo die Menschen ihn allzu sehr zu kennen glauben und meinen, über ihn verfügen zu können. Karl Rahner war überzeugt, dass „das unreflektiert Unverfügbare letztlich vertrauenswürdiger ist als das, was wir wissend zu durchschauen meinen“. Der Kirchenlehrer Augustinus meint: „Wenn du ihn begriffen hast, kann es nicht Gott gewesen sein.“ Zeitgemäße, glaubwürdige Rede von Gott sollte wieder Ausdruck eines ahnungsvollen, vorsichtigen Tastens im Ungewissen, im Unbeschreiblichen, im Unfassbaren sein.