Die Vergabe des Nobelpreises für Literatur an den Lyriker Tomas Tranströmer hat ein seltenes Echo in der Kulturszene hervorgerufen: Als „Weltendichter" titulierte die „Frankfurter Allgemeine" den Schweden, über den die „Süddeutsche Zeitung" schrieb: „Tomas Tranströmer fordert nichts, sondern gibt allenfalls etwas. Und nichts Großes, kein Glück wird hier verlangt, sondern allenfalls ein Innehalten angesichts der Tyrannei der verrinnenden Zeit." Tranströmers Verse seien „von philosophischer Tiefe und zugleich von verblüffender Einfachheit", urteilte die „Welt". Auch jenseits des Atlantiks wurde die Vergabe der international bedeutendsten Literaturauszeichnung an Tranströmer gewürdigt: Die „New York Times" erklärte, in Tranströmers Sprache scheine „jedes Wort auf den Millimeter abgemessen zu sein". So viel Einigkeit war selten.
Wie viel Unverständnis bedeutendes Kopfschütteln brachten Kritiker der Schwedischen Akademie doch entgegen, als Namen wie Elfriede Jelinek, Jean-Marie Gustave Le Clézio oder Herta Müller verkündet wurden. Vielfach war zu lesen, in der diesjährigen Entscheidung der Jury hätten Ästhetik und Poetik vor jeder politischen Aussage obsiegt. Die Tranströmer-Krönung sei ein Gegenpol zur Nobelpreisverleihung etwa an Mario Vargas Llosa, dessen Werke die Widerstände gegen Machtstrukturen aufzeigen, oder zu Imre Kertész, der mit zuvor unerreichter literarischer Genialität die Schicksallosigkeit der Nazi-Opfer für immer ins Wort gebracht hat. Doch diese Einordnungen Tranströmers bleiben unbefriedigend.
Am 10. Dezember wird der stehende schwedische Monarch Carl Gustaf dem im Krankenstuhl sitzenden Tomas Tranströmer den Literaturnobelpreis verleihen. Der König wird sich „zum ersten Mal zu einem Dichter hinabbeugen, so wie es sich eigentlich gehört", schreibt der Leiter des Hanser-Verlags und Freund Tranströmers, Michael Krüger. Schenkt man den Vertrauten des schwedischen Dichters Glauben, wird der seit einem Schlaganfall halbseitig Gelähmte dieses hohe Ereignis nicht als den größten Tag in seinem Leben empfinden. Er wird, wie zu seinem achtzigsten Geburtstag im letzten Frühjahr, den Ruhmesreden aufmerksam zuhören „mit einer Mischung aus Scham und Belustigung". Tranströmer ist kein Darsteller, kein Mann der Pose, kein Grass, nichts scheint ihm ferner als Selbstinszenierung.
Der König beugt sich dem Dichter
Über die Gründe, wieso und wann ein Mensch uneitel wird, lässt sich breit spekulieren. Tranströmers Lebensweg jedenfalls ist gespickt mit Momenten der Selbstbesinnung und Nachdenklichkeit. Als Sohn einer Lehrerin und eines Journalisten wird Tranströmer 1931 in Stockholm geboren, nach der frühen Scheidung seiner Eltern wächst er bei seiner Mutter und dem Großvater auf. Er beginnt das Studium der Literatur- und Religionsgeschichte sowie Psychologie, arbeitet als Psychologe in einer Jugendstrafanstalt, später als Berufsberater in verschiedenen Arbeitsämtern. Literarisch wirkt Tranströmer schon während der Studienjahre: Ab 1955 gehört er als Mitherausgeber und Redakteur der schwedischen Zeitschrift „Upptakt" an. Bereits 1954 wird sein erster Gedichtband „17 dikter", auf Deutsch schlichtweg „17 Gedichte", veröffentlicht. Es ist der Beginn eines Literatenlebens: Die internationale Kulturszene wird, wenn auch erst spät, in den achtziger Jahren auf ihn aufmerksam. 1981 erhält Tranströmer in Avignon den Petrarca-Preis aus den Händen des Verlegers Hubert Burda, 1990 gewinnt er den Literaturpreis des Nordischen Rates.
Mittlerweile sind seine Werke in dreißig Sprachen, darunter alle Weltsprachen, übersetzt. Schicksalbestimmend für die vergangenen zwanzig Jahre war ein Hirnschlag 1990, bei dem das Sprachzentrum im Gehirn des Dichters beschädigt wurde. Tranströmer musste noch einmal lernen zu sprechen. Vor allem aber hat er sich ins Leben zurückgeschrieben. Mit großer Geduld, Ausdauer und der Liebe seiner Frau Monika hat er das Wesentliche seines Daseins wiedergewonnen, „eine Lektion", wie Andreas Breitenstein in der „Neuen Zürcher Zeitung" meint, „die über die Literatur hinausgeht". Und somit wird mit dem diesjährigen Literaturnobelpreis auch jemand mit Lebensklugheit und der Weisheit eines Weitgereisten geehrt, der Vorbild sein kann, mit Krankheit, Alter und dem Schicksal umzugehen, ohne sich aufzugeben oder das Leben als lebensunwert aufzufassen.
„Nimm dein Grab und geh"
Dem Dichterfreund Lars Gustafsson schrieb Tranströmer in einem Brief, ein christlicher Mystiker zu sein, „aber einer" - so Gustafssons Einschätzung in der „Zeit"-, „der so wenig Aufhebens von seinem Bekenntnis macht, dass er gleichermaßen Zen-Buddhist sein könnte". Existenzielle Fragestellungen sind wesentlicher Stoff seines lyrischen Schaffens.
Besonders in dem Gedicht „Zwei Städte" hat Tranströmer christliche Erlösungsvorstellungen und Bildwelten der Bibel einfließen lassen: „Auf je ihrer Seite eines Sundes zwei Städte: / die eine verdunkelt, besetzt vom Feinde. / In der anderen brennen die Lampen. / Der leuchtende Strand hypnotisiert den dunklen. // Ich schwimme in Trance hinaus / auf die glitzernden dunklen Wasser. / Ein dumpfer Tubastoß dringt herein. / Es ist die Stimme eines Freundes, nimm dein Grab und geh."
Man wird die Verse nicht überinterpretieren, wenn hier in der leisen und klein-verknappten Sprache Tranströmers das Großereignis des Christentums formuliert ist. Wer sein Grab nehmen kann und fortgeht, der lebt. Wer lebend in die Stadt der Lampen geht, ist auferstanden. Als Tranströmer die wenigen, schön traurigen Verse von „Zwei Städte" bei der Verleihung des Lyrikpreises der Bayerischen Akademie hörte, „konnte man auf seiner Miene … den Anflug eines zaghaften Lächelns beobachten, Ausdruck eines vorübergestreiften Glücks", schrieb Hans Jürgen Balmes in der „Neuen Zürcher Zeitung".
Auch die letzte Strophe von „Im Nildelta" lässt sich lesen als Werk eines christlichen Mystikers: „Ein Traum kam. Er war auf einer Seereise. / Im grauen Wasser entstand eine Bewegung, / und eine Stimme sagte: „Einen gibt es, der ist gut. / Einen gibt es, der kann alles sehen, ohne zu hassen." Den Leser berühmter Herbstgedichte erinnern die letzten Zeilen an Rainer Maria Rilkes Worte: „Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. / Und sieh dir andre an: Es ist in allen. / Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält." Der Unterschied zwischen Tranströmer und Rilke liegt in der Eindeutigkeit, mit der wir „den Einen" bestimmen können. Rilkes Gottesverständnis verortet die Literaturwissenschaft zunehmend außerhalb des Christlichen, dessen vermittelnde Instanzen zwischen Gott und Mensch er kritisiert. Während Rilkes Gotteserfahrung rein intuitiv war, scheint das Credo Tranströmers doch deutlich kirchlicher angebunden. Die schwedische Tageszeitung „Nya Dagen" stellte den Nobelpreisträger als gläubigen Lutheraner vor, der die Gottesdienste in der Domkirche von Västeras besuchte, bei kirchlichen Feierlichkeiten Gedichte vortrug und weiter die schwedische Bibelgesellschaft berät.
„Die Angst unterbricht ihren Lauf"
Die Nobelpreis-Jury drängt also nun mit ihrer Auslobung tausende Leser, sich hinzusetzen und die Gewohnheiten des Prosalesens abzulegen. Dieses Vorgehen hat System. Andernfalls würde man Absicht und Weite der Entscheidung der Akademiemitglieder, die allesamt sehr wohl wissen, dass zeitgenössische Lyrik weder geliebt noch gekauft wird, unterschätzen. Zuletzt gab es diesen Anstoß 1996, als die polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska für ihr Werk geehrt wurde, „das ironisch-präzise den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten lässt".
Weltaufschließende Kraft besitzt in der Dichtung wie auch in der Prosa der Stil, die Form, nicht der Plot, die Handlung. Tranströmers Gedichte wollen in synchroner Perspektive, also mit der Zeit, gelesen werden. Dann wird deutlich, wie sehr sich diese Gedichte von der sprachlichen Verfasstheit der Alltagssprache abheben. Mit dieser Lektüre lässt sich Abstand gewinnen vom Wort- und Nachrichten-Chaos dieses Jahres. Die Weltbürger wurden geradezu eingenommen vom Wortschatz der Schreckensmeldungen: Super-GAU, Atom-Katastrophe, Schuldenkrise, Bankrott, Verschuldung, Terror, Tyrann, Rebellion, Occupy…
In diesem Katastrophenjahr gilt es, einen Gegenpol zu Drama und Angst, zu Umsturz und Vertrauensverlust herzustellen. Tranströmers Sprache schafft einen neuen Ton. Bei ihm entdeckt man, was Literatur alles leisten kann, wenn sie nicht das Karussell des Alltagswahns mitdreht: Hoffnung machen, statt ängstigen. Horizonte eröffnen, statt Abgründe aufzeigen. Ruhe schaffen statt Hektik. Kurz: lehren, weiterzuleben. In Tranströmers Dichtung hört sich das so an: „Die Mutlosigkeit unterbricht ihren Lauf. / Die Angst unterbricht ihren Lauf. / Der Geier unterbricht seinen Flug. // Das eifrige Licht fließt hervor, / sogar die Gespenster nehmen einen Schluck. // Und unsere Malereien kommen zutage, / die roten Tiere unsrer Eiszeitateliers. // Alles beginnt sich umzublicken. / Wir gehen in der Sonne zu Hunderten. // Jeder Mensch eine halboffne Tür, die in ein Zimmer für alle führt. // Der unendliche Boden unter uns. // Das Wasser leuchtet zwischen den Bäumen. // Der Binnensee ist ein Fenster zur Erde."
Verse wie diese aus dem Gedicht „Der halbfertige Himmel" lassen Fukushima und Griechenland, Gaddafi und Assad kurz vergessen. Es sind eindrückliche Bilder von Befreiung, Aufbruch und Verwandlung: Der Geier unterlässt als Greifvogel seine Beutejagd, und Gespenster sind nicht mehr Wesen der Dunkelheit. Tranströmers Vorstellungswelten machen Hoffnung, dass jeder Mensch dem Nächsten eine, wenn auch halboffne, Tür sein kann in einen Raum, der für alle da ist. Andreas Breitenstein kommentierte: „Sein der Langsamkeit entsprungenes, von schwebenden Bildern gesättigtes und federnden Gedanken durchsetztes Werk weist auf das Basale von Dichtung: auf Anfang und Ende, Einkehr und Verwandlung, auf Abstraktion und Anschauung, Sprachwerdung und Form."
Ein Zeitfenster für große Fragen
Die Entscheidung, Tranströmer den Nobelpreis zu verleihen, ist sicherlich keine politische im engeren Sinne. Wohl aber ist ein Wunsch hinsichtlich der politischen und gesellschaftlichen Weltsituation bekundet. Wer Lyrik liest, nimmt sich Zeit, nimmt Distanz zum Informationsgewitter von Twitter und TV und ahnt, dass die Wirren dieser Welt nicht das Letzte sind. Lars Gustafsson schreibt, wovon Tranströmers Dichtung handelt: „Von dem Augenblick, in dem sich der Nebel lichtet. Wenn der Alltag einen kurzen Moment aufbricht und aufhört, Alltag zu sein." Dann ist ein Augenblick geschaffen, ein kleines Zeitfenster, das dem Menschen im 21. Jahrhundert die Chance der Selbstbefragung, des Hörens ins Innere bietet. Mit der kleinen Lyriklektüre können die großen Fragen des Lebens Raum gewinnen. Was glaube ich und an wen? Welchen Platz hat der Einzelne im Gefüge der Welt? Wie wichtig ist das Individuum überhaupt? Bedarf es der Erlösung - und wenn ja, von wem und wovon?
Die religiöse Frage Tomas Tranströmers ist vor allem die des Ringens um einen Gott, der nicht zu denken ist ohne seine Anwesenheit im Menschen und in der Natur. Der Schöpfer, der sich nicht lossagt von Schöpfung und Geschöpf. In dem Gedicht „Romanische Bögen" heißt es: „Ein Engel ohne Gesicht umarmte mich und flüsterte durch den ganzen Körper: ‚Schäm dich nicht, Mensch zu sein, sei stolz! / In dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe, endlos. / Du wirst nie fertig, und es ist, wie es sein soll.'" Tranströmer behandelt die göttliche Dimension nicht getrennt von der aufklärerischen. Der Engel, ein Wesen der Gottessphäre, spricht einen Aufforderungssatz aus, der an Immanuel Kants Sapere aude angelehnt ist: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen."
Mit zunehmendem Alter zeigt sich die Liebe des Nobelpreisträgers zur japanischen Gedichtform des „Haiku", dessen drei Verse im besten Fall genau fünf, sieben und fünf Silben umfassen. Zumeist wird der Sinnspruch durch einen Natureindruck ausgelöst: „Ein Paar Libellen, / ineinander verhakt, / schwirrte vorbei. // Anwesenheit von Gott. / Im Tunnel des Vogelgesangs / wird ein verschlossenes Tor geöffnet. // Eichen und der Mond. / Licht und stumme Sternbilder. / Das kalte Meer." Tranströmers Gedichte, gefasst in sprachlicher Dichte und moralischer Zurückhaltung, geben Anstoß zu existenziellen Fragen. Dieses Angebot scheint am Ende eines Jahres - das eine verseuchte Erde in Japan, ein suchendes Nordafrika, einen angespannten Nahen Osten, ein irritiertes Europa, eine zutiefst verunsicherte Weltgemeinschaft zurücklässt - kein schlechter Rat zu sein.
Literatur:
Tomas Tranströmer, „Sämtliche Gedichte". Übersetzt aus dem Schwedischen von Hanns Grössel (Hanser, München 1997).
Ders., „Die Erinnerungen sehen mich". Übersetzt aus dem Schwedischen von Hanns Grössel (Hanser, München 1999).
Ders., „Insektensammlung von der Insel Runmarö". Und: „Jugendgedichte". Nur gemeinsam beziehbar (Kleinheinrich, Münster 2011).